Mein Kritiker-Ethos

Zwischen Zitatsammlung, Liste und Selbstreflexion

Was ist (Theater-) Kritik? Und warum betreibe/ betrieb ich sie? Und widme ihnen gar eine ganze Seite im Internet, die zu Beginn genau das in ihrem Zentrum haben sollte: Meine Sicht auf Theateraufführungen, die ich gesehen hatte. Aber einen Lebenstraum hatte ich mir damit nicht erfüllt.
Ich kam nämlich zu diesem Job „wie die Jungfrau zum Kinde“.
Nachdem ich lange Zeit vergeblich versucht hatte, erst AUF und dann HINTER der Bühne Fuß zu fassen, hatte ich eigentlich nicht vor, mich jemals im Zuschauerraum vorzufinden (zumindest nicht ohne - bezahlte -   Eintrittskarte.  Ich entdeckte während meiner Zeit in der Operndramaturgie eines provinziellen deutschen Staatstheaters meine damalige Leidenschaft für das Konzeptionieren und Gestalten von Webseiten mit selbstgeschriebenen Texten, ähnlich einem Programmheft. Nachdem eine Seite, die ganz gezielt eine Produktion begleiten sollte, eingestampft wurde, nachdem sie nicht mehr gebraucht wurde und alle meine Inhalte, in die ich so viel Herzblut gesteckt hatte, im endlosen Nirwana des WWW verschwunden und von der Seite gelöscht wurden, beschloss ich, dass ich meine eigene Seite anlegen würde, auf der ich schalten und walten durfte, wie ich wollte. Was-ein-Theater.de war geboren („So-ein-Theater“ war leider bereits vergeben) und schon der Titel verriet meine schon immer recht polemische Sicht auf alles und jeden- auch auf das Theater und alles was damit zusammen hängt.  Als ich mir bei einem Vortrag über journalistisches Arbeiten (ich weiß noch nicht mal mehr, wie genau der Titel der Veranstaltung hieß) beim hiesigen Arbeitsamt an einem tristen Nachmittag im November des Jahres 2017 (ich hatte an diesem Tag bis kurz vor knapp nicht einmal große Lust, mich noch dahinzubewegen)  eigentlich nur ein paar Tipps zum Umgang mit Urheberrechten und korrekter Zitation im nicht wissenschaftlichen Rahmen holen wollte, wurde ich (ich war übrigens der einzige Teilnehmer) eingeladen, für eine Regionalzeitung zu schreiben und verfasse für diese als einen meiner Auftraggeber neben regional-journalistischen Texte im erster Linie regelmäßig (Kultur-)Kritiken.
Genug zu meiner „Lebensgeschichte“, doch sie untermauert die Feststellung, dass der Beruf des (Theater-)Kritikers nicht zwingend eine von Anfang an geplant Karriere-Option sein muss, die aber mit einer gewissen Verantwortung einhergeht und trotz aller Leidenschaft für einen unterhaltsamen und polemischen Text  Demut und Respekt vor dem Werk Anderer erkennen lassen sollte, welches ihre Schöpfer einem - in der Regel hoffnungsvollen - Urteil überlassen.  Denn gerade bei einem kritischen Text wird gern unterstellt, man sei frustriert und neidisch, weil man es eben „nur“ zum Kritiker geschafft habe.  Das mag sicher auf einige, wenn nicht gar auf viele Rezensierende zutreffen, dennoch ist der Weg zu einer guten und vor allem konstruktiven Kritik in der Regel der, die zu kritisierende Materie nicht nur vom Kritikersessel aus zu kennen, ohne die Verbitterung des Gescheiterten durchblicken zu lassen. Und das ist der eigentliche Drahtseilakt, der schmalste aller Grate.


Symbolbild©pixabay/lolame
Symbolbild©pixabay/lolame

„Schreibe garstig und schön“

 

So zumindest hieß der Titel einer Weiterbildungsmöglichkeit, einer der wenigen, die die Internetsuchmaschine der Wahl ausspuckt, wenn es um das „Lernen“ des „Berufs“ Theaterkritiker geht. Denn eine Ausbildung zum Kulturkritiker gibt es nicht, genauso wie eine Ausbildung zum Kritiker allgemein. Eine Affinität zur Materie, wie auch immer geartet und die Fähigkeit so zu schreiben, dass alle etwas davon haben und etwas damit anfangen könnte, ist aber (mindest-)Voraussetzung. Dennoch braucht es neben „Lockerheit“ und „stilistischen und polemische Fähigkeiten“ eben - leider - auch Vorwissen. Dabei lässt sich streiten, ob einschlägige Studien oder Ausbildungen dabei hinderlich („betriebsblind“) oder förderlich (erlernbare Strukturen) sein können. Am wichtigsten ist jedoch die Attitüde, die Offenheit, die man jedem zu rezensierenden Gegenstand gegenüber haben sollte, dass man - im positiven Sinne - genauso leer ist wie das Blatt, das man am Ende beschreibt, nicht weil man es soll, sondern weil man es will.

Symbolbild©pixabay/Pexels
Symbolbild©pixabay/Pexels

 

Die Kritik ist das, was von der Aufführung bleibt

 

Wer eine Kritik schreibt und diese veröffentlicht, der schreibt Theatergeschichte. Er ist dann Teil der Debatte, ob er es will oder nicht. Er beeinflusst möglicherweise - im Guten wie im Schlechten. Das impliziert, dass er eine Verantwortung hat und bisweilen sogar eine ethische. Ist es doch beispielsweise etwas anderes eine Schultheateraufführung zu „kritisieren“ als eine Profiveranstaltung. So etwas ist dann keine „skurrile Begleiterscheinung, wie das „Mütchenkühlen an Regisseuren“ oder die „Liebeserklärungen an Schauspielerinnen“, es ist ein pädagogischer Auftrag und ein verdammt schmaler Grat, ob und wenn man bspw. bei der Sememesterabschussaufführung einer Schauspielschule „Gnade walten lassen“ sollte und wann nicht.

Symbolbild©pixabay/prexels
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Der Akt des Zuschauens

 

Die Perspektive des Zuschauers ist mit die wichtigste im Kulturbetrieb, zumindest im Theater, denn wie wir alle wissen: ohne Zuschauer kein Theater.

Das Alleinstellungsmerkmal des Berufskritikers, wie er vor dem Internet lediglich in den Feuilletons dieser Republik existiert hat, hat mittlerweile zwar ausgedient, kann doch heute praktisch jeder dank Internet einen Blog betreiben (sic!) und seinen "Kritikersenf" in den Leser-Orbit katapultieren … Das ist zwar einerseits schön demokratisch, allerdings wie auch in vielen anderen Bereichen möglicherweise ein Qualitätsschwund, denn: Zuschauen ist das eine, darüber dann anschließend schriftlich so zu berichten, dass es gut begründet wie implizit, unterhaltsam wie informativ ist und vor allen Dingen so gestaltet, dass es denen hilft, die nicht dabei waren, damit sie auch dabei sein wollen, egal aus welcher Motivation heraus. Der bis zu diesem Zeitpunkt nicht involvierte Zuschauer kann gar nicht betriebsblind sein, egal wie „vorgebildet“ er ist oder wie präzise er analysieren, verstehen, beschreiben oder interpretieren kann, denn er ist außen vor, seine Ansicht wird immer eine Außenansicht sein, wie für jeden jenseits der Rampe, im großen Schwarz des Zuschauerraums. Denn auch er ist ein Zuschauer, wenn auch einer mit Stift.

Es muss nicht alles verstehen und wissen, denn der, der die Karte kauft, tut es ja auch nicht. Aber eines sollte er: nämlich „klug“ schauen und in der Oper auch noch dementsprechend hören. Das ist dann aber mehr als sich einlassen und nicht betriebsblind sein.

Symbolbild©pixabay/garten-gg
Symbolbild©pixabay/garten-gg

 

Alles begann mit Lessing

 

Wir dürfen alle nicht vergessen, dass Kritik auch eines ist: eine literarische Form.

Dennoch sollte sie keinen Selbstzweck haben. Eine Kritik, die nicht gut geschrieben ist, hilft am Ende niemanden. Eine, die niemand liest, aber auch nicht.

Als Schmarotzer oder Trittbrettfahrer möchte ganz sicher keine Kritiker bezeichnet werden, dennoch: lassen sich jenseits des Selbstverständnisses jedes einzelnen Kritikers zwei Grundtypen herauskristallisieren, die sich etabliert haben soll, zumindest nach Meinung von Christian Gampert, nämlich: der Erlebnis-Kritiker zum einen und der Selbstdarsteller zum anderen. Ersterer ist da natürlich der Gute, ist dieser doch begeisterungsfähig, liebt das Theater und macht er für den, der nicht dabei war, durch einen Bericht noch einmal lebendig, letzterer ist dennoch nicht unbedingt der Böse, obwohl er draufhaut, sich in intellektuellen Erörterungen und Erklärungen verliert, das Gespräch blockt und Theater nur als Schreibanlass sieht, weil diese Art der Kritik unterhaltsam sein kann und nichtsdestotrotz als diskursstiftend fungiert.

Symbolbild©pixabay/ferowave
Symbolbild©pixabay/ferowave

Der Kritiker als Übersetzer

 

Nicht nur als Anstoßender eines Diskurses fungiert der Kritiker, sondern auch als Übersetzer, der aus von Außen kommender vor allem die Rolle des Vermittlers in diesem „Spiel unter Eingeweihten“ einnehmen sollte. Seine Einschätzung einer Aufführung bzw. Inszenierung informiert eine theaterinteressierte Öffentlichkeit und gibt den Theaterschaffenden ein Feedback stellvertretend für den Zuschauer, vor allem, wenn der Dramaturg in seiner Mittlerfunktion zuvor möglicherweise versagt hat, dem Zuschauer zu erklären, warum auf der Bühne was passiert. Dabei dann vor allem nicht persönlich gegen die Schaffenden und manipulativ dem Konsumierenden gegenüber zu werden ist ein erforderlicher Drahtseilakt.

Er muss dabei auch nicht zwingend alles verstehen und wissen können, denn der, der die Karte kauft, tut es ja auch nicht.

Symbolbild©pixabay/viarami
Symbolbild©pixabay/viarami

 

Zwischen Lobeshymne und Verriss

 

Laut Gampert diente die Theaterkritik früher zur Belehrung, Erbauung und zur Freude. Er betont, sie sollte sich eher an den Theaterinteressierten als an den Schaffenden richten. Somit wäre sie Werbung und kein Feedback aus Zuschauersicht. Er erwähnt aber auch, dass er nicht an die Massenwirkung der Kritik glaube und dass, wenn die Menschen ins Theater gehen wollte, sie das auch täten, Kritik hin oder her.

Somit rückt der Nutzen und Sinn der Kritik wieder in die Nähe des Selbstzwecks, wo die Versuchung Verrisse zu schreiben, ungemein höher ist, als Lobeshymnen zu verfassen. Die Gefahr von Lobeshymnen sei zu dem, dass sie „zu nah am Kitsch gebaut“ wären. Und „Kitsch und Betroffenheitspose“ gelte es um jeden Preis zu vermeiden. Die Schadenfreude sei ohnehin leichter und spannender. Doch die führt ja zwingend zum Verriss, oder? Was soll man also tun, wenn man sich in der undankbaren Position des Kritikers befindet, dieses „Schmarotzers und Trittbrettfahrers“? Dieses Zuschauers mit Stift.

Seinen eigenen Weg gehen, die beste Mischung aus allem finden, das rechte Maß etc.

Ich muss am Ende des Tages sagen können, ich bin stolz auf meinen Text, er steht aber weder über dem, was ich gesehen habe, noch abgekoppelt. Man sollte ihn nicht ignorieren, aber auch nicht überhöhen. Er ist eine Sichtweise von vielen, eine Meinung in einem Diskurs, der nicht nur vielfältig sein kann, sondern auch sollte. Und wer weiß, vielleicht erreicht man damit auch etwas bzw. irgendwen. Im Guten wie im Schlechten.

Vielleicht findet sich der Sinn des Kritikers aber auch in diesem leicht abgewandelten Zitat, wenn man Poesie durch Kritik ersetzt:


„Ich will Ihnen ein Geheimnis verraten. […] Wir lesen und schreiben Gedichte, Kritiken nicht nur so zum Spaß. Wir lesen und schreiben GedichteKritiken, weil wir zu Spezies Mensch zählen, und die Spezies Mensch ist von Leidenschaft erfüllt; und Medizin, Jura, Wirtschaft und Technik sind zwar durchaus edle Ziele und auch notwendig; aber Poesie, Schönheit, Romantik, Liebe (Kunst, Musik und Theater) sind die Freuden unseres Lebens. Ich möchte an dieser Stelle Whitman zitieren, ‚Ich und mein Leben … die immer wiederkehrenden Fragen, der endlose Zug der Ungläubigen, die Städte voller Narren. Wozu bin ich da? Wozu nützt dieses Leben? Die Antwort. Damit Du hier bist. Damit das Leben nicht zu Ende geht. Deine Individualität. Damit das Spiel der Mächte weiterbesteht und Du Deinen Vers dazu beitragen kannst.‘ Damit das Spiel der Mächte weiterbesteht und Du Deinen Vers dazu beitragen kannst. Was wird wohl Euer Vers sein?“(John Keating, Der Club der toten Dichter, 1989)

 

Oder im zweiten Teil des Zitats des Ratatouille-Kritikers:


„Doch es gibt auch Zeiten, da ein Kritiker tatsächlich etwas riskiert, wenn es um die Entdeckung und Verteidigung von Neuem geht. Die Welt reagiert oft ungnädig auf neue Talente, neue Kreationen(...).“

 

Möglicherweise hat aber auch Oscar Wilde im Vorwort seines Romans "Das Bildnis des Dorian Gray" etwas Erhellendes über den Kritikerberuf und die, über die er rezensiert, zu sagen:

 

"Der Künstler ist der Schöpfer schöner Dinge. Ziel des Künstlers ist es, die Kunst zu offenbaren und den Künstler zu verbergen.
Kritiker ist, wer seinen Eindruck von schönen Dingen in eine andere Manier oder in ein neues Material übersetzen kann.
Die höchste wie die niederste Ausprägung der Kritik ist eine Form von Autobiografie.
Wer in schönen Dinge eine hässliche Bedeutung entdeckt, ist verdorben, ist verdorben, ohne reizvoll zu sein. Das ist ein Fehler.

Wer in schönen Dingen einen schönen Sinn entdeckt, ist kultiviert. Für ihn besteht Hoffnung.
Ausgewählt ist der, für den schöne Dinge einzig Schönheit bedeuten. " (Oscar Wilde- Das Bildnis des Dorian Gray, S.9.)

Da kann dann jeder selbst für sich entscheiden, wo er sich im Gesamtbild befindet.

Für mich manifestiert der Sinn des Kritikers sich aber auch in einer Liste, deren Punkte ich mir zu Herzen nehme und mir ein Kompass während meiner Tätigkeiten sein soll. Sie muss nicht abschließend gesehen werden.



Mein Kritiker-Ethos  - eine Liste

 

  • Mich gut vorbereiten
  • Nicht persönlich werden
  • Den Blick des Zuschauers wahren
  • Demut vor der Arbeit des anderen haben
  • Wissen, für wen man schreibt
  • Es geht hier nicht um mich
  • Ich bin reflektiert, aber nicht allwissend

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