"Es schneit wieder."

Das klassische märchen dekonstruiert zwischen horror und Fantasy

Filmkritik "Schneewittchen"


Es ist bekannt, dass die (Grimmschen) Märchen eigentlich keine harmlosen Gute-Nacht-Geschichten zur uneingeschränkten Kinderunterhaltung sind, fällt doch auf, dass das Grausame und Böse darin eine feste Rolle hat und mitunter äußerst direkt und plakativ dargestellt wird. Auch ist in ihnen eine soziologische Komponente zu finde, sind die in ihnen vorkommenden Figuren als Allegorien oder psychologisch zu deuten, was Märchen durchaus als erzieherisches Mittel befähigt.

Diese schaurige Seite verschafft den Märchen eine Verbindung zum Horror-Genre, mit dessen Mitteln die Geschichten interpretiert werden können, sind doch beispielsweise das Aufessen von Kindern oder das Abschneiden von Körperteilen gewissermaßen Splatter und Gore vom Feinsten. Und der ganze Stress und die Todesängste, die Märchenfiguren bisweilen ausstehen müssen, ist, prädestiniert die Sagen geradezu, als packende Psychothriller erzählt zu werden.

Längst haben Film-Regisseure diese Art Potenzial der Märchen erkannt und haben Nacherzählungen der Stoffe geschaffen, die mit ihrem düsteren Fantasy-Ambiente und ihren beklemmenden oder gruseligen Momenten die Märchenstunde weit in den späten Abend hinein verschieben. Neben bekannteren Beispielen wie „Brothers Grimm“ (2005, Regie: Terry Gilliam), „Snow White and the Huntsman“ (2012, Regie: Rupert Sanders) oder „Maleficent“ (2014, Regie: Robert Stromberg) ist eine ältere und unbekanntere Version des Märchens "Schneewittchen" aber durchaus einen Blick wert, nämlich „Schneewittchen“ von Michael Cohn (1997), im englischen Original passenderweise mit dem Beititel „Tale of Terror“ versehen.

 

Inhalt und Anlyse

Schon der Anfang des Film, bei dem Schneewittchens Eltern, Lord Frederick Hoffman (Sam Neill) und dessen Frau Liliana (Joana Roth)im Wald mit ihrer Kutsche in einer dunklen Winternacht verunglücken, ist brutal, denn Hoffman muss das Kind seiner Frau bei vollem Bewusstsein aus deren Bauch schneiden, während der Kutscher ein paar Meter weiter von Wölfen verfetzt wird. So fallen auch mehr als drei Tropfen Blut in den Schnee. Sieben Jahre später tobt das kleine Schneewittchen (Taryn Davies) namens Lilli, benannt nach seiner Mutter Liliana, im Schlossgarten mit seiner Amme (Frances Kuka) herum und bekommt die milde( und allseits bekannte )Version seiner Geburtsgeschichte erzählt, die es glauben soll. Zurück im Schloss, lässt sich bei einem Gespräch mit ihrem Vater erkennen, dass sie nicht glücklich darüber ist, dass er wieder heiratet. Als Lillis neue Stiefmutter Claudia (Sigourney Weaver) anreist, schenkt sie Lilli zur Begrüßung einen Welpen und zieht neidische wie bewundernde Blicke auf sich, wird mit Lilli aber dennoch nicht wirklich warm. So beobachtet Lilli später heimlich und wenig begeistert, wie ihr Vater und Claudia sich küssen. Claudia, die in die alten Gemächer von Lillis Mutter zieht, ist frohen Mutes über ihr neues Glück, und deutet ihrem stummen Bruder Gustav (Miroslav Taborsky), der mit ihr einzieht, gegenüber an, „dass ihr nun eine Welt offen steht, die ihrer Mutter verschlossen blieb“. Der gehörte auch der seltsame umheimliche Schrank, der Spiegel, und es lässt sich vermuten, dass sie eine Hexe oder ähnliches gewesen sein muss. Mehr erfahren wird aber nicht über Claudias Herkunft. Bei ihrer Hochzeit singt Claudia und strahlt, während Lilli verloren umherläuft und sich später extrem frech zu Claudia ist. Lilli flieht um einer Strafe zu entgehen und versteckt sich unter dem Bett in Claudias Zimmer. Als ihre Amme ihr ins Zimmer folgt, öffnet sich der geheimnisvolle Spiegel vor ihr und sie stirbt vor Lillis Augen einen mysteriösen Tod. Später liegt Lilli im Bett und trauert. Ihre Kindheit ist vorbei und sie betrachtet das Bild ihrer Mutter in dem Medaillon, das sie stets um den Hals trägt.

Durch eine Kamera-Blende geht das Antlitz ihrer Mutter ihn ihres über und die erwachsene bzw. jugendliche Lilli wird von Dienerin Ilsa (Dale Wyatt) zurechtgemacht und möchte Geschichten über Mutter hören und sehnt sich nach der Ferne, als der junge Arzt Peter Gutenberg (David Conrad), der ihr zugetan ist, aus Paris zurückkommt. Während sie mit ihm plaudert kommt Claudia, die mittlerweile sichtbar schwanger ist, hinzu und streitet mit Lilli, weil sie möchte, dass sie am Abend bei einem Fest ein bestimmtes Kleid trägt. Lilli trägt stattdessen aber das Kleid ihrer Mutter, das sie auf dem Dachboden gefunden hat und zieht so nicht nur alle Blicke auf sich, sondern macht auch ihren Vater stolz. Claudia, die eben noch gesungen hat und bewundert wurde, ist nun nicht länger das Zentrum der Aufmerksamkeit und kollabiert. Sie erleidet eine Fehlgeburt und kann nie wieder ein Kind bekommen, deshalb soll ihr Bruder das tote Baby retten. Sobald er aus dem Raum ist öffnet sich der Spiegel von selbst und ruft die verängstigte Claudia zu sich, die durchdreht, fortan mit dem Spiegel redet und einen Hass auf ihre Stieftochter entwickelt. Als diese sich später sogar bei Claudia entschuldigt und sich mit ihr aussöhnen will, festigt sich bei Claudia sichtlich der Neid und Hass auf die jüngere Frau. Nachdem Peter, der sich eben mit Lilli bei einem Reitausflug verlobt hat, bereits vorgeht, um mit Lillis Vater zu sprechen, bleibt diese allein zurück am Waldsaum und begegnet dort Claudias Bruder Gustav, der sie überraschend mit einem Messer bedroht. Panisch flieht Lilli in den Wald und verirrt sich darin. Gustav schlachtet derweil eine Schwein und überreicht Claudia dessen Herz in der Hoffnung, dass diese es nicht merkt. Während Claudia und Lord Hoffman gerade im Begriff sind, die Innereien Lillis- sie im Glauben sie seien es und er unwissend- zu verspeisen, meldet Peter Lillis Verschwinden. Während Lillis Vater und Verlobter mit einem Suchtrupp ausrücken findet Lilli eine Ruine, Brot und einen Schlafplatz. Claudia, erst in großer Euphorie über ihren vermeintlichen Sieg, findet jedoch heraus, dass ihr Bruder sie betrogen hat und wird vom Spiegel zu dessen Bestrafung angeregt. Lilli wird von den „Zwergen“, inszeniert von Regisseur Cohn als gesetzlose Räuberbande, in der Ruine gefunden und mit dem Brotdiebstahl („Sie (und ihresgleichen) stiehlt uns Brot“) auf mehr als den konkreten tatsächlich Lilli begangenen Diebstahl angedeutet. Obwohl die Bande gemein zu Lilli ist, helfen sie ihr als ein Mitglied sie vergewaltigen will, und jagen ihn davon. Der prophezeit ihnen zwar noch, dass das Mädchen ihnen Unglück bringen wird, trotzdem lebt Lilli fortan mit der Gruppe und begleitet sie auch in die Mine, in denen sie nach Gold schürfen.

Ab da beginnen die drei Versuche der Stiefmutter, das Schneewittchen ausfindig zu machen und zu töten und wendet dazu Magie an. Ihr erster Zauber sorgt dafür, dass der Stollen einstürzt und der zweite dazu, dass Lilli fast von Bäumen erschlagen wird, nachdem sie mittels einer Stimme in den Wald gelockt wurde. Beide überlebt sie und es stirbt beide Male genau der „Zwerg“, mit dem sie sich kurz vorher angefreundet hatte.

Währenddessen hat Claudia, wieder angeregt durch den Spiegel, den Entschluss gefasst, Frederick, sie sie bereits vergiftet hat, zu töten und ihm seinen Samen zu rauben, damit ihr totes Kind leben kann. Doch vorher verführt sie Peter und schickt ihn weg, nachdem sie alle Dienstboten zu zombieartigen Wesen gemacht hat. Im Versteck der Bande hat sich Lilli währenddessen in deren Anführer, Will (Gil Bellows), nach anfänglichem Streit, verliebt. Claudia setzt nun zum dritten und dieses Mal werktreuen Mordversuch an und verwandelt sich in eine alte Krämerin, die Lilli einen vergifteten Apfel schenkt, der sie in einen komaartigen Zustand mit bizarren Wachträumen versetzt und sie wird. Peter, der sie mittlerweile gefunden hat, diagnostiziert bei ihr „rigor mortis“ und er und die Männer beerdigen sie in einem Sarg aus Stuckglas. Will, der spürt, dass sie noch lebt, widersetzt sich Peter und schüttelt Lilli solange, bis sie das vergiftete Apfelstück ausspuckt und erwacht. Voll Dankbarkeit bezahlt Peter Will, der das Geld aber nicht annehmen will und reitet mit Lilli zum Schloss. Als sie angekommen sind, finden sie den Schlossgarten verwüstet vor und und stellen fest, dass Will ihnen gefolgt ist. Nicht nur das in der Luft schwebende Liebesdreieck zeugt von einer unausgesprochenen Spannung ob dieser Situation für alle drei. Sie betreten das Schloss gerade als Claudia bei ihrem Mann zum Kehlenschnitt ansetzen will und vereiteln so die Tat. Während Will sich um Lillis Vater kümmert, macht sich Lilli auf die Suche nach Claudia und durchstreift in Form des Motivs er Heldin eines Gothic-Novels nachts im Nachthemd ein Schloss mit Fackel in der Hand um dann Claudia in einem Showdown gegenüberzutreten. Die erste Kampfsequenz ist eine eingebildete, in der sie alle Spiegel im Raum zertrümmert, um später von Claudia und dem Baby überrascht zu werden, die die ganze Zeit über in einem Sessel gesessen waren. Die echte Sequenz beginnt, als Claudia von hinten Lillis Kopf packt in diese in die Speigel stößt und verletzt. Mittlerweile brennt es im ganzen Schloss und Claudia eilt zu ihrem weinenden Baby und lässt von Lilli ab. Claudia nutzt die Gelegenheit, greift nach einem Messer und will sich auf Claudia stürzen, die aber vom Spiegel gewarnt wird. Lilli stößt geistesgegenwärtig das Messer in den Spiegel und tötet so Claudia auf grausame Art und Weise die dann auch noch Opfer der Flammen wird. Durch die grotesken Verrenkungen die die sterbende Claudia vollführt, wird Bezug auf den Tod der Stiefmutter in der Märchenvorlage durch den Tanz in glühenden Pantoffeln genommen.

Lilli konnte aus dem Schloss fliehen und wird von ihrem kranken Vater erkannt der mit Will draußen liegt. Nun ist der Weg frei für ihre Liebe, denn Peter hat es nicht geschafft. Es fängt an zu schneien und und so endet „Schneewittchen“ in schwarz, weiß und rot (em Blut) und der Schrank schließt sich und das letzte Bild ein.

 

Fazit

Regisseur Cohns filmische Adaption des Grimm‘schen Märchen bringt „Schneewittchen“ zurück zu seinen grotesken Wurzeln und dekonstruiert den Stoff auch sonst auf nur jede erdenkliche Art und Weise. Herausgekommen ist ein düsterer und atmosphärischer Fantasy-Horror mit opulenter gothic-artiger dunkelromanischer Kulisse (Lillis „Gothic-Heroine“-Szene im Stil der englischen Schauerliteratur beispielsweise oder die vielen an romantische Gemälde erinnernden Gegenlichtausblicke), stimmungsvoll fotografiert,mit Ecken und Kanten und einer nicht zu vernachlässigenden psychologischen Ebene.

In einem historisch in weiten Teilen präzisen spätmittelalterlichen/frührenaissanceartig anmutenden Setting* eines fiktiven Deutschlands (gedreht wurde größtenteils in Tschechien) spielt sich die Handlung zwischen Burg und (düsterem) Wald ab. Wenig(!) übernatürliche und Fantasy-Elemente kommen in „Schneewittchen“ vor, denn Claudia ist die einzige Figur, die über solche Fähigkeiten verfügt. So gibt es dann auch ein realistisches und kein durchaus märchentypisches Deus ex Machina-Ende. Selbst Anti-Heldin Claudia weist ausschließlich menschliche Motive für ihr „böses“ Handeln und ihre Wandlung auf, denn sie ist nicht von Anfang an böse. Als unfruchtbare und alternde Frau muss sie um die Zuneigung ihres Mannes mit dessen Tochter, die als Ebenbild ihrer verstorbenen Mutter allgegenwärtig ist. Das traumatische Erlebnis lässt sie überschnappen und sie sieht im Spiegel ihr (viel schöneres und vielleicht auch eingebildetes) Ebenbild, dass die zu ihren Handlungen antreibt. Von Sigourney Weavers differenzierter Charakterdarstellung der „bösen Stiefmutter“ lebt die Personenführung des Films auch größtenteils. Doch auch Monica Keena, die Lilli zwar insgesamt etwas blass, aber dennoch menschlich interpretiert, wächst am Ende über sich hinaus und sorgt durch ihr eigenes mutiges Handeln für ein „Happy End“ im Rahmen der Möglichkeiten. Aber auch die anderen Charakter-Archetypen wurden dekonstruiert. Der eigentlich heldenhafte Prinz ist nicht mal ein solcher und lässt sich sogar von der Stiefmutter verführen und die Zwerge sind ein von der Gesellschaft verstoßener Haufen, der sogar als Folie für einen sozialkritischen Verweis auf die Feudalgesellschaft dient.

Ein Geheimnis lässt der Film aber bis zum Ende offen, nämlich, was es mit dem gruseligen Schrank auf sich hat, dem einzigen übernatürlichen Element, denn Claudias (Zauber-)Kraft scheint an ihn gebunden zu sein. Es bleibt offen, wer (ihre Mutter, sich selbst, einen Geist...?) oder was das was sie in dem Spiegel sieht, am Ende wirklich ist.

 

 

*Für die Gesangsdarbietungen von Claudia (gesungen von Karen Hart) wurden zwei Vocalstücke aus dem Mittelalter ausgewählt die im Abspann als „Lullay, Lullay“ und „Cum Doctorum“ ausgewiesen werden. Ersteres heißt eigentlich „(Ay I lay on) Yoolis Night“ und ist ein praktisch unbekannter englischer Weihnachtschoral aus dem frühen 14. Jahrhundert. Das zweite stammt aus einem französischen liturgischen Spiel aus dem 12.Jahrhundert namens „Le Jeu de Daniel(lat.: Ludus Danielis)“. Beide Stücke scheinen komplett willkürlich gewählt worden zu sein und fallen aus dem zumindest rein visuell überzeugenden historischen Bühnen- und Kostümbild heraus. Warum sollte Claudia an ihrem Hochzeitstag ein Weihnachtslied und bei einem Fest Teile einer Liturgie vortragen?


Symbolbild Kino ©pixabay/8385
Symbolbild Kino ©pixabay/8385

Weitere Informationen:

 

Titel: (Gebrüder Grimms ) Schneewittchen (Original: Snow White: A Tale of Terror)

Regie: Michael Cohn

Buch:  Deborah Serra, Thomas E. Szollosi

Musik: John Ottman

Produktionsjahr : 1997

Produktionsland (USA)

Genre: Fantasy-Horror

FSK: 12

Dauer: 100 Minuten

Hier zu beziehen


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