Beim Stichtwort „Euopäischer Trash-Gansterfilm mit Hang zu Skurrilität und schwarzem Humor“ sind es vor allem Franzosen oder Skandinavier, die sich mit Werken wie beispielsweise Dobermann (1997, Regie: Jan Kounen), In China essen sie Hunde (1999, Regie: Lasse Spang Olsen) oder Banlieu 13(2010, Regie: Pierre Morel) bisher einen Namen gemacht haben.
Ein ausgesprochener Genremix wenn nicht sogar eine regelrechte Genreverwirrung ist es, was diese Filme ebenso auszeichnet, die sich alle irgendwo zwischen Trash und Kult verorten lassen.
Ein ähnliches Spektakel veranstaltet auch der spanische Film Neon Flesh (2010, Regie: Paco Cabezas) der sich mit seinen allesamt jedoch nicht jugendfreien Elementen vor allem von Komödie, Thriller und Action, mühelos in diese Reihe einfügt und sich dort in bester Gesellschaft befindet.
Obgleich der Film einen nicht zu leugnenden Trash-Faktor hat, versteckt sich hinter diesem grotesken Gangster-Thriller durchaus auch die Lesart einer tragischen Milieustudie.
Inhalt
Ricky (Mario Casas) ist der Sohn einer Prostituierten, die ihn auf der Straße geboren und ihn im Alter von zwölf Jahren dort zurückgelassen hat, um für viele Jahre ins Gefängnis zu gehen. Ein Foto der beiden ist das einzige was ihm als Erinnerung bleibt.
Auf den Straßen Madrids aufgewachsen schlägt Ricky sich als junger Mann mit kleinen Gaunereien durch, umgeben von einem Milieu aus Drogen, Prostitution und Kleinkriminalität. Er gilt dort als „Kumpel“ und hat das Herz eigentlich am rechten Fleck. Deshalb will er seiner Mutter, als er erfährt, dass diese endlich nach so vielen Jahren aus dem Gefängnis entlassen wird, eine Freude machen und ihr zu Ehren ein Bordell namens Hiroshima eröffnen, das den beiden ein besseres Leben ermöglichen soll.
Damit dieses „Willkommensgeschenk“ termingerecht überreicht werden kann, baut Ricky auf die Hilfe seiner Bekannten, Zuhälter Angelito (Vincente Romero), dessen Sidekick Niño (Luciano Cáceres) und dem Transvestiten Infantita (Dámaso Conde). Zwar schafft Ricky es, den Club zu eröffnen, doch ab diesem Zeitpunkt geht alles schief. Nicht nur Rickys Mutter Pura (Ángela Molina) ist mittlerweile dement und will ihren Sohn nicht erkennen, sondern durch sein Geschäft ist er unwissentlich in den Hoheitsbereich des Gangsterbosses Chino (Darío Grandinetti) gelangt, der ihn erpresst. Daneben geraten Ricky und Angelito in Konflikt mit der „Pornoqueen“ Frida (Susana Varela) und deren Entourage, die Ansprüche auf eines seiner Mädchen stellen. Als noch weitere Probleme aufkommen und um an Geld zu kommen, fasst Ricky den Entschluss, den „Spieß umzudrehen“ und Chinos Handlanger Loco zuvorzukommen, der Verónica (Blanca Suárez) die Tochter der Polizeichefs (Antonia de la Torre) entführen soll, damit Ricky seine Schulden bei Chino los ist. Ab da wird es dann wirklich gefährlich für das Möchtegern-Gangster-Trio ...
Fazit und Analyse
Mit seinen schrägen Gangstern und coolen Sprüchen und dem mehr als schmalen Grat
zwischen Rauheit und Absurdität, der bei Neon Flesh schon Methode hat, schreit die rabenschwarze Gangster -Groteske geradezu "Guy Ritchie".
Mit seinen grellen Farben, schellen Schnitten, dem rasanten Tempo, dem Stilmittel der hin und her geschobenen Bilder und des Einfügens von Figurennamen ins Bild, den angekündigten Rückblenden und einem edgy Soundtrack bedient sich Regisseur Cabezas fast schon der comicartigen Ästhetik, von der klar ist, dass er sich das ein oder andere auch von Kult-Regisseur Quentin Tarantino abgeschaut haben muss, an den er jedoch dennoch nicht heranreicht.
Hauptfigur Ricky, der den ganzen Film über auch als eine Art Erzähler gesehen werden kann und sich dem Stilmittel der Off-Stimme bedient und dessen Sterbeszene als eine Art Rahmen für den Film dient, führt in einem Handlungsstrang und weniger episodisch durch eine brutale und schonungslose Gangsterfilm-Kulisse, bei der jeder Aspekt in sich dennoch eine gewisse Komik beinhaltet, auch wenn der Humor darin so dreckig und zynisch daherkommt wie die ungeschönte Darstellung so mach eines nicht jugendfreien Details. Daher kann man Neon Flesh unterstellen, er nähme sich ernst, ohne sich ernst zu nehmen. Doch gerade diese moralische Ambiguität, die sich wie ein roter Faden durch den Film zieht, macht seinen ganz besonderen Charakter und seinen Reiz aus.
Kleine Fische gegen die Halbwelt - Darstellung des Gangster-Milieus
Insgesamt ist der Film trotz seiner grotesken Elemente um eine „realistische“ Milieu-Zeichnung bemüht, wenn er Einblicke gewährt wie es auf der Straße eben läuft. Durch Ricky lernt der Zuschauer, dass es auf eben dieser Straße im Grunde nur um eins geht: Fleisch - und „entweder man kauft oder verkauft es“. Ricky, dessen Erfahrungen mit Kriminalität sich bisher auf den Handel mit Goldketten, Pillen und Gras beschränkt haben, machen ihn zu einem kleinen Fisch, ebenso wie Angelito, der zwar Zuhälter ist und ein großes Mundwerk hat, sich am Ende aber auch nicht als „wirklich böse“ herausstellt.
Deshalb ist er auch nur halb begeistert als Ricky im Kontext seiner Möglichkeiten nach „Höherem“ strebt und einen Club eröffnen will und rät ihm eindringlich, „auf der Straße zu bleiben“, weil sie ihnen gehöre und „diese Leute“ ein anderes Level seien. Mit „diese Leute“ ist die wirklich Halbwelt gemeint, in die nicht nur die „Porno“-Queen gehört, sondern vor allem Gangsterboss Chino, mit dem Ricky unfreiwillig Bekanntschaft macht, eine Welt der rohen Gewalt und des Menschenhandels, eine Welt die so voller Tragödie ist, dass selbst die groteskeste Komik Halt vor ihr macht.
Eindrücke dieser Schonungslosigkeit gibt es aber auch bereits bei Ricky und Angelito zu sehen, die sie zwar ins Komische retten, aber den bitteren Nachgeschmack damit nicht ausmerzen können. Besonders stark ist diese Ambiguität bei den Szenen wie der, in der das Baby einer der Frauen geboren wird, während gleichzeitig ein Freier oben im Club eine Prostituierte verprügelt und anschließend von Niño verprügelt wird, während Ricky und Angelito ein beiläufiges Gespräch führen, zu sehen, oder dem Markt für „Ostblockweiber“, wo die beiden für den Club „einkaufen“ und die Frauen anschließend in ihre neue Arbeit einführen. Da zeigt sich auch noch einmal der Unterschied zwischen dem zwar an sich schon irgendwie harmlosen Angelito und Ricky, der sich trotz seiner Sozialisation fast so etwas wie Anstand, Moral und ein reines Herz bewahren konnte und Angelito, der dennoch große Stücke auf Ricky hält („Der Kleine hat eben Charakter“), die Meinung sagt, wenn der - ob nun halb im Spaß oder Ernst? - zu weit geht („Du kannst doch kein Baby töten, du kranker Irrer. Was geht in deinem scheiß Kopf ab?!“).
Gefangen im Milieu - Wenn die Figuren Gefühle zeigen ...
Aber nicht nur die weiche Seite des zerrissenen Ricky, der um die Liebe seiner Mutter kämpft, ist einen Hinsehen wert, denn auch die anderen skurrilen Typen, die in Neon Flesh unterwegs sind, haben eine Solche, wenn auch weitaus besser versteckt als bei Ricky.
Da wären zum einen Infantita, die philosophierende Transe mit Träumen, der fast schon mütterlichen guten Seele des Haufens, die immer eine Schulter zum Anlehnen und ein offenes Ohr für alle hat. Auch Pura, Rickys richtige Mutter, findet widerwillig ihren Platz im Club, auch wenn sie eigentlich andere Pläne hat und kommt am Ende doch nicht gegen die ihr von sich selbst auferlegte Härte an.
Auch der undurchsichtige Niño, zeigt, als er sich in eine der für den Club besorgten Frauen verliebt, eine unerwartete Seite, die ihn sogar in Schwierigkeiten bringt. Die Figuren lassen Interpretationsspielraum bezüglich dessen, ob sie wirklich so kaputt sind, wie man denken könnte oder bereits vorher so tot waren, wie sie es am Ende sind.
Chino, der Oberböse des Films, fasst es am Ende treffend zusammen, obwohl er denkt, dass er Ricky kennt, als er anmerkt, dass „Kinder nicht für die Sünden ihrer Eltern büßen sollten“.
Weitere Informationen:
Titel: Neon Flesh (Original: Carne de neón )
Regie: Paco Cabezas
Buch: Paco Cabezas
Musik: Óscar Araujo, Julia de la Rosa
Produktionsjahr : 2010
Produktionsland : Spanien, Argentinien, Schweden
Genre: Thriller, Komödie, Gangster-Groteske, Genre-Mix
FSK: 18
Dauer : 98 Minuten
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