Verbrennungen von Wajdi Mouawad gespielt vom Theater am Fluss Kassel

"Die Kindheit ist ein Messer in der kehle"

Foto: Zeliha Dogan
Foto: Zeliha Dogan

Ein Video zeigt eine brennende Stadt, der Musik nach, die erklingt, befindet sie sich im Nahen Osten. Es herrscht Krieg. Gepackt von diesem symbolischen Szenario sieht der Zuschauer drei schemenhaften Frauengestalten von links und rechts auf die Bühne kommen. Alle drei stellen sich vorn auf und sagen einen Satz: "Mein Name ist Nawal und das ist meine Geschichte".

Diese Geschichte, szenisch beschrieben von Wajdi Mouawad in seinem Stück "Verbrennungen", inspiriert von der Autobiografie "Résistante" der Libanesin Suha Bechara, erzählt in Rückblenden das Schicksal einer Familie vor dem Hintergrund des libanesischen Bürgerkrieges. Auf drei Erzählebenen verweben sich das Ödipus-Thema das des Krieges und am Ende einer langen und schmerzhaften Suche wird ein Familiengeheimis gelüftet, das die Wissenden verstummen lässt.

Geschickt inszeniert Regisseur Viktor Dell diese drei Ebenen in der Inszenierung des Theaters am Fluss Kassel. In einem Strang erfährt der Zuschauer, wie Nawal als 19-jähriges Mädchen (Gülce Fitzek) von ihrem Geliebten (Robin Jäger) schwanger wird und das Dorf verlässt. Ein Weiterer begleitet die 40-jährige Nawal bei ihrer Suche nach ihrem verschollenen Sohn während der Zeit des Krieges. Die erste Szene jedoch und damit die Expostion des Stückes spielt nach dem Tod Nawals, als deren Kinder, die Zwillinge Jeanne (Katharina Hoffmann) und Simon (Maik Dessauer), die im Westen aufgewachsen sind, vom Notar Hermile Lebel (Klaus Fischbach) das Testament vorgelesen bekommen. Deutlich wird hier die schwierige Beziehung zur Mutter, die besonders den Sohn betrifft, der sich adhoc weigert, den letzten Willen der Mutter, die die letzten Jahre nur geschwiegen hat, und der darin besteht, ihren verschollenen Bruder, von dessen Existenz sie bisher nichts wussten, zu finden, zu erfüllen. Beide haben ihre eigene Art damit umzugehen. Während Simon sich beim Boxen ablenkt, erfährt Jeanne bei ihre Arbeit als Mathematikprofessorin ein Schlüsselerlebnis und begreift ("Wir alle gehören zu einem Vieleck"), woraufhin sie beschließt dem Willen der Mutter zu folgen und den Vater zu suchen, den sie nie kennenlernte. Von nun an hat sie ihren eigenen Handlungsstrang, der sie ins Heimatland der Mutter führt. Simon beschließt viel später, nach einigen Rückblenden ins Lebens Nawals, auch zu suchen, und zwar nach dem Bruder, was seine Aufgabe ist. Stück für Stück setzt sich das Puzzle zusammen. Die Sequenzen werden kürzer, verdichten sich, je mehr Simon und Jeanne erfahren, parallel zur mittelalten Narwal und somit auch der Zuschauer. Dieses simultane Erleben sorgt für Spannung und einen guten dramaturgischen Bogen bis zum Schluss, besonders, wenn Sequenzen sich wirklich simultan anspielen, oder wenn eine auf die andere unmittelbar Bezug nimmt. Aber auch in der Erzählung gibt es Erzählungen, die hinter der Ganze gezeigt werden, wie der Prozess, dem die 60-jährige Nawal (Erna Fertinger) beiwohnt und bei dem sie als erste das schlimme Geheimnis erfährt, dass sie verstummen lässt und sie dazu bringt, es auch ihre Kinder erfahren zu lassen, zwecks Vergeben und Verständnis, so hart die Wahrheit auch ist. Das Ensemble spielt überzeugend und glaubwürdig und trägt maßgeblich zur Atmosphäre bei. Besonders eindrucksvoll ist dabei, auch aufgrund ihrer fast surrealen Inszenierung, die Sequenz, in der eine Vergewaltigung durch einen Soldaten der mit einem Gewehr eindeutige Bewegungen zu Roxanne von George Michael macht. Aus Gründen des Spoilerns werden hier die gelüfteten Geheimnisse nicht verraten, denn das Stück ist sehenswert und nicht nur in dieser gelungenen Inszenierung.


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