Die Oper The Rakes Progress fand erst vergleichsweise spät ihren Weg ins Repertoire. Galt sie doch lange als Kassengift. Schon die Uraufführung in Venedig im Jahr 1951 konnte – vielleicht aufgrund einer zu kurzen Probenzeit – keine allzu gute Kritik verbuchen, ebenso wie die 61er Inszenierung Ingmar Bergmanns in Stockholm oder die namhaft besetzte Aufführung Peter Mussbachs 1994 bei den Salzburger Festspielen. Strawinskys mit Abstand längste Oper war in ihrer Entstehungszeit einfach nicht zeitgemäß, war sie zwar sein letztes neoklassizistisches Werk, doch das in einer Zeit, in der die europäische Avantgarde Neue Musik erwartete. Mit ihrem musikalischen Rückgriff auf das 18. Jahrhundert, insbesondere auf Mozart und der jedoch düsteren Grundstimmung des Sujets ist sie als Werk an sich zwar durchaus interessant, aber zu sperrig und zu speziell um einen Massengeschmack zu treffen. Das Staatstheater Kassel hat sich in der Spielzeit 2017/18 dazu entschieden, die sicheren Pfade des Repertoires auch mit diesem Werk ein wenig zu verlassen.
In der Inszenierungsgeschichte von The Rakes Progress hat es die unterschiedlichsten Herangehemsweisen gegeben. Ingmar Bergmann wählte 1961 den Brechtschen Erzählgestus inklusive psychologischer Personenführung. Für Strawinsky selbst, der damals noch gelebt hat, ist es übrigens die überzeugendste szenische Lösung gewesen.
Ken Russel erreichte 1982 in Florenz einen aktualisierend realistischen Zugriff durch Verlegung der Handlung ins moderne London mit seinen Konsumverführungen und Mediensensationen. Seitdem wird dieses Konzept von denen meisten neueren Inszenierungen verfolgt.
Durch Sarah Cadwell begann die Auseinandersetzung auf Basis eines provokativen Regietheaters, als diese 1967 in Boston die Handlung ins zeitgemäße Hippie-Milieu setzt.
Die Oper basiert auf einem Bilderzyklus des englischen Künstlers William Hogarth mit Namen „Die Karriere/ Laufbahn/Lebenslauf eines Wüstlings“ aus dem 18. Jahrhundert wurde. Die Szenen sind so angelegt, dass sie ins Irrenhaus führen. Die Oper beginnt im Freudenhaus und endet im Irrenhaus.
Auden schrieb das Libretto und kann als eigentlicher Architekt der dramaturgischen Struktur angesehen werden. Er hatte die Idee einer Opera buffa mit Secco-Rezitativen, denn Strawinsky wollte gesprochene Dialoge zwischen den Nummern haben.
Auch überhöhte Auden die Charaktere Hogarths, fügte mythische und biblische Konnotationen hinzu. Außerdem wurde eine neue Figur hinzugefügt: Nick Shadow. Das untermalt den christlichen Tenor, denn die Oper bedient sich auch der Dramaturgie aus „The Pilgrim’ s Progress“, eines allegorischen Buches des englischen Baptistenpredigers John Buchanan. Dessen Protagonist mit dem Namen Christ wird auf seiner Reise in den Himmel mit zahlreichen Versuchungen gelockt und am Ende für seine Standhaftigkeit mit einem Aufstieg belohnt. Im Gegensatz zu Christ bei Buchanan steigt Tom bei Alden jedoch ab, eben weil Nick Shadow, eine Art Allegorie des Teufels, es schafft, ihn erfolgreich vom rechten Weg abzubringen.
Mit Cosi Van Tutte als musikalisches Leidbild verpflichtete Strawinsky sich mit seinem Werk der musikdramatischen Tradition des 18. und frühen 19. Jahrhunderts. The Rakes Progress bildet den Abschluss seiner neoklassischen Schaffensperiode in den 1920er Jahren. Besonders die Finali der Oper erinnern stark an Mozart. Es gibt schöne gefühlvolle Arien, bei denen vor allen die Sängerin der Anne (Elisabeth Bailey) zu Höchstform aufläuft. Ein Interessantes musikalisches Stilmittel ist, dass der Figur des Nick Shadow ein spezielles Instrument zugeordnet wird, nämlich das Cembalo, das dessen Erscheinen ankündigt.
Die meisten Figuren, mit Ausnahme von Türkenbab, die als grelles orangenes Wesen daherkommt und bisweilen an Medusa erinnert (auf einem Bild wird sie übrigens mit einem Originalfoto von Conchita Wurst dargestellt), sind eher schlicht gekleidet. Die Schulmädchenuniform von Anne ist sicher die London/England-Referenz, die aber auch etwas an einen Mangacomic erinnert. Der Chor trägt Anzug bzw. schlichte Abendgarderobe und Mother Goose als ordentliche Puffmutter selbstverständlich ein prolliges Zuhältergold. Auffällig sind bei allen Figuren die Perücken, die aussehen wie aus Gummi, ein bisschen wie bei Actionfiguren. Symbolisch ist auf jeden Fall der Aufzug von Tom gemeint, dessen sprichwörtliche weiße Weste nach und nach im schicken Ombre-Look über sämtliche Graustufen schließlich samt Gummiperücke pechschwarz wird. Plakativer geht’s eigentlich nicht. Am Schluss bei der Moral gibt es dann als nettes Gimmick noch den Perückentausch der Hauptfiguren.
Warum hängt der Topf verkehrt herum in der Vitrine? Warum sitzt eine nackte Frau auf einem Lippensofa in einem Glaskasten? Später sind in den Kästen gefangen: Wahrzeichen wie Eiffelturm, Freiheitsstatue und Herkules (die obligatorische Kassel-Referenz mit dem Holzhammer), eine einzelne rote Lampe, ein Heuballen, obwohl auch da keiner weiß, warum da Stroh liegt, obwohl am Ende auch ein nackter Mann darinnen ist und ein – ohne Scherz – I-Toaster, also der Toaster von Apple, wurde im Rahmen dieser Inszenierung erfunden. Und er gibt uns die Illusion des Funktionierens. Die Strompreise im fiktiven Rakes-Progress-London auf der Opernhausbühne des Staatstheaters Kassel scheinen offensichtlich etwas hoch zu sein, denn meist ist die Wohnung in der Kastenbühne schlecht beleuchtet. Ob nun Party oder Privat, das Licht ist stets dämmrig. Oder der Apple-Toaster hat einfach zu viel gekostet ... Aber was weiß ich schon von Licht-Regie... Genial ist auf jeden Fall die Bühne in der Bühne, der Guckkasten, in dem sich die Handlung abspielt und den die Figuren für ihre Arien, Duette etc. verlassen. Schleier trennen das Raumaußen vom Rauminnen. Der Hauptvorhang wird nicht bedient und bleibt sogar während der Pause offen. Treppen in diesem an alte Häuser in London erinnernden Gebäude im georgianisch-englischen Stil mit modernen Bezügen sind Symbole. Umgekehrt können sie nur nach unten führen, analog zum "Stairway-to-heaven"-Bild.
In Paul Esterhazys Kasseler Inszenierung spielt das Smartphone die Hauptrolle. Stets ist es präsent, jeder hat eines in der Hand und starrt unentwegt darauf. Hier wird ein Problem der Gegenwart eingebaut, das zeigt, wie sehr in der Geschichte die Kommunikation gestört ist. Das Handy steht für die Pervertierung zwischenmenschlicher Beziehungen. Schon beim ersten Auftritt von Anne, ihrem Vater und Tom Rakewell starren alle drei auf ihre Handys; Nick Shadow, der hinter dem Vorhang erscheint bemerken sie nicht, erst bei „tot“ reagieren sie; immerhin (#smombies). Auch wird telefoniert, wenn die Figuren der Vorhang trennt. Außerhalb des Guckkastens haben sie nämlich die Möglichkeit, in den Arien ihre Gefühle zu zeigen. Nick hält Tom sogar einmal im Kasten zurück als Anne über Liebe singt. Genau wie das Handy keinen realen Kontakt ersetzen kann, ist auch Anne in einer pervertierten Version bei Tom: als Gummipuppe. Sogar als Nick Shadow es geschafft hat, Tom mit der Türkenbab zu verheiraten, lebt die Anne-Puppe bei ihnen, sitzt mit ihnen am Frühstückstisch. Während Bab telefoniert und dekoriert entflieht Tom dem ganzen, indem er Kopfhörer in sein Handy einstöpselt, mit denen er Bab auch stranguliert, nachdem diese ihre Wut an der Anne-Puppe auslässt. Eine glückliche Ehe sieht anders aus, auch im digitalen Zeitalter. Aber Nick Shadow ist auch noch nicht fertig mit seinem Opfer Tom Rakewell. Laut Story/Plot dreht er ihm jetzt die Maschine an, mit der man aus Steinen Brot machen kann, eine plumpe Scharlatanerie natürlich. In der Kasseler Inszenierung ist dieses Gerät von Apple und auch der Toast der aus der Maschine kommt, hat das bekannte Emblem. Normalerweise würde man das als Produktplacement bezeichnen, hier aber hat es sicher eine tiefergehende Message. Nick Shadow selbst hat als der, der die Fäden zieht, natürlich nicht nur ein Smartphone, sondern ein Tablet. Auf dem unterschreibt Tom auch nicht nur den Vertrag, der seine Seele in Gefahr bringt und seinen Untergang besiegelt, sondern spielt auch mit Shadow das Kartenspiel, das ihm eine letzte Chance geben soll und das er gewinnt. Laut Plot verschwindet Nick in sein Grab und lässt Tom – trotz allem wahnsinnig – zurück. In der Inszenierung besteht Nicks letzte Handlung darin, Tom nach dem Verfluchen das Tablet zu entreißen und ihm die Anne-Puppe zu überlassen. Eine symbolische Geste. Dass Nick der Leibhaftige ist, zeigt er durch das plakative Hinterherschleifen seines Beines, den sprichwörtlichen Pferdefuß, mit dem er Bühne und Handlung verlässt. An Ende dann die Irrenhausszene. Werktreu umgesetzt mit einem Irren, der die Geige mit imaginären Bogen spielt, und einem der mit einem Bogen eine imaginäre Geige streicht, einer verzweifelten Anne und einem toten Tom. Und das diesmal ganze ohne Handy. Aber das hätte jetzt auch nicht mehr geholfen.
Basierend auf einer Serie von Kupferstichen lassen sich aus drei Akten mit jeweils drei Szenen gerahmt von einem Präludium davor und einer Moral danach aus diesen Akten und Szenen neun Bilder herleiten und darstellen. Die Inszenierung bringt sie durch Überschriften auf einer Tafel, die über dem Guckkasten schwebt im Brecht’ schen Stil auf die Bühne. Es wird zu Beginn stets die mit der jeweiligen Szenenüberschrift heruntergelassen. Die Sprüche sollen Tom und das Publikum zum Nachdenken anregen, bestätigen aber, dass es eher bergab denn bergauf geht. Kurz vorm Ende dann „Gibt es eine Hoffnung“? (Musik sagt NEIN...)
Für einen Freitagabend ist die Vorstellung relativ dünn besucht. Zwar gibt es den üblichen Zwischenapplaus nach einzelnen Arien und Teilen und einen Bravoruf aus der Loge, von stehenden Ovationen ist die Reaktion des Publikums jedoch weit entfernt, obwohl der Applaus sich stetig steigert, was sicher aber auch an den Leistungen der Sänger und des Orchesters gelegen haben mag.
Die Handlung von Kupferstichen, die Musik neoklassisch, die Struktur musikalisch von Mozart oder Händel, eine Bühne auf der Bühne, Figuren mit Gummiperücken, die am Ende wie beim Fußball getauscht werden, eine surreal-reale Bühne im ewigen Dämmerlicht und all das auch noch sponsored by apple. An Brecht wird natürlich auch gedacht: Mit Schildern.
Eine wilde Mischung, die man erst mal verdauen muss. Eine die sich an Vorbildern orientiert, ein Baukasten, der sich von allem etwas Bewährtes nimmt und etwas Neues schafft. Die einer Tradition folgt und sie fortsetzt. Irgendwie. Mit Plakativem und Naheliegendem. Aber mit durchaus Verständlichem. Zeitgemäß mit dem Holzhammer, außerdem sponsored by apple. Und durchaus innovativen: Ja, ein Apple-TOASTER?! Warum eigentlich nicht ... Tim Cord mach dich ans Werk, bevor Steve Jobs sich im Grab umdreht. Oder Strawinsky.
Besuchte Aufführung: 11. Mai 2018
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