Während der Coronazeit als notwendiges Übel des „totalen Lockdowns“ sowie als virensichere Alternative zum Theatersaal mit Abstands- und Verhaltensregeln regelmäßig viral gegangen sind die (Live)Streams diverser Aufführungen. Dabei kristallisierten sich Formate heraus, die das Ganze unterschiedlich zufriedenstellend meisterten - oder eben nicht. Exemplarischstes Negativbeispiel meines Erfahrungsschatzes aus dieser Zeit ist der Stream einer Inszenierung des Theaters der Universität Kassel mit dem Titel „Schieß doch, Kaufhaus!“ aus dem Jahr 2021.
Dieses zeitgenössische Theaterstück von Martin Heckmanns aus dem Jahr 2002 beschäftigt sich in Form Collagen-artiger Episoden mit den Themen Isolation und Unerreichbarkeit trotz moderner Kommunikationstechnologie und der Frage nach dem, was Globalisierung eigentlich ist.
Für Regisseur Volker Hänel und sein Team hinter den Kulissen fast 20 Jahre später anscheinend thematisch das perfekte Stück für die Corona-Zeit.
Ob es ihnen mitsamt den Darstellern trotz oder vielleicht gerade durch die neuen und irgendwie auch notgedrungen notwendigen technischen Möglichkeiten gelingt, dem Stück gerecht zu werden, muss natürlich jeder Zuschauer am Ende für sich selbst entschiedenen habe, dennoch wage ich zu behaupten, dass ein digitales Format für jedwedes Bühnenstück eine absolute Herausforderung ist.
Eine Wand aus bunten Containerkisten, von der sich langsam eine Kamera wegbewegt, dazu erst simultan, dann im Chor sprechende Stimmen, deren Ursprung nicht sichtbar ist, bis die Wand von den Urhebern der Stimmen, drei Overalls und Mütze-tragenden Figuren namens Ätz (Annika Steiner), Kling (Julia Kopylova)und Klar (Christian Köhn) die ihre Namen mit Klebeband auf dem Rücken tragen, plötzlich zum Einsturz gebracht wird. Sofort beginnen die Figuren wütend und energisch polemische Wort- und Satzfetzen ohne scheinbaren Zusammenhang in die Gegend zu schießen. Ausgestattet mit sichtbaren Head-Set-Mikrofonen beginnen die drei damit, sich durch die verschiedenen Kisten zu kämpfen und mit ihnen zu spielen. Das Ganze wird aus sämtlichen Kamera-Perspektiven direkt auf die Geräte der Stream-Zuschauer gesendet. Synchron tanzend und sprechen bewegen sich die drei Figuren, meist in der Totale, dann wieder stark herangezoomt auf so etwas wie die erste Szene zu, welche mit „Kongress No.1“ betitelt ist. An drei Pulten werden nun impulslastig Sätze in die Gegend gefeuert, die unmissverständlich klarmachen, dass es hier um Politik geht. Danach wird zu Musik wieder rhythmisch umgebaut und nach ein paar Sätzen nun 3-stimmig (Dona Nobis Pacem)gesungen, dann im Dunkeln getanzt und erneut umgebaut, bevor nach einer weiteren Musiksequenz und einer Videosequenz mit Effekten in die dritte Szene („Kongress No.2“) umgebaut wird. Anstatt über Politik zu reden („nicht so Bock …“) wird jetzt lieber gerappt, getanzt und eine Art Musikvideo performt („Bimmel Bammel“). Nach einer Erschütterung auf der Bühne ist der Zuschauer nun endgültig im „Random Nonsens“- Teil des Stückes gelandet, der letzte Schwall assoziativer Textfetzen wird Richtung Kamera geschossen, bevor nach der ersten und letzten Vogelperspektive nach eine Black alles zusammenfällt und das Stück nach 1,5 Stunden („„Wie soll es weitergehen?“ „Ich weiß es nicht.“) abrupt sein Ende findet. Die Musik läuft noch und leitet das anschließende Publikumsgespräch ein, das im Gegensatz zur wenige Wochen vorher aufgezeichneten Aufführung an diesem Abend tatsächlich live ist.
Zurück bleibt ein reizüberfluteter und ganz sicher in mancherlei Hinsicht sicher auch überforderter Zuschauer. Dieser hat anderthalb Stunden vor einem wie-auch-immer-gearteten Bildschirm verbracht und wurde während dieser Zeit praktisch nonstop mit assoziativen Satzfetzen, Phrasen und ab und an mal einem Schlüsselsatz, der im Gehirn haften geblieben sein könnte, von drei körperlich und stimmlich sehr präsenten Performern regelrecht beschossen. Jedoch können derartig kraftvolle und dynamische Impulse von einem körperlich nicht anwesenden Zuschauer nicht richtig aufgenommen werden. Sie verlaufen ins Leere und der Spieler kommuniziert dann gewissermaßen wie mit einer Wand. Er ist quasi gefangen in seinem Spielraum und bekommt keinerlei Feedback während seines Spiels, weil es ohne ein Teilen des Raumes von Spieler und Zuschauer ja kein Theater gibt. Der Zuschauer wiederum weiß, dass er einer Aufzeichnung zusieht, die er zwar zuvor noch nie gesehen hat, die aber eigentlich ohne ihn stattgefunden hat und die ihn im Grunde genommen ausschließt. Er hat sich einen Film einer Performance angeschaut, die am Bildschirm weder fesseln noch fordern kann, sondern allenfalls langweilen und anstrengen, weil ihr die so enorm wichtige Energie und Unmittelbarkeit des Raumes fehlt.
Konzept
Angelegt als Performance muss dank Corona ein digitales Format die stark durchchoreografierten und farballegorisch angelegten Bilder von Volker Hänels Interpretation von „Schieß doch, Kaufhaus!“ an den Zuschauer bringen. Bestehend aus bunten Kisten und anderen mehr oder weniger abstrakten Wohnelementen (Sitzelemente, Pulte, TV, Regale, Schränke, Wände, Türme) kann die Bühne von den drei Figuren Ätz, Klar und Kling beliebig und dynamisch jederzeit umgebaut werden. Eingereiht in dieses Konzept aus den drei Grundfarben rot, gelb und blau stehen auch die Figuren für verschiedene Positionen und Haltungen, wirken beinahe wie Allegorien und schreien, rennen, streiten, singen oder tanzen sich energisch, hektisch, kämpferisch, zwar unter Strom aber stets synchron durch ihren Kampf mit oder gegen gesellschaftliche und/oder politische (Macht-)Strukturen, stets hin - und hergerissen zwischen Öffnen und Einmauern, bauen sie entweder Brücken oder Mauern und wenn sie mal eine Pause von dem ganzen Stress brauchen oder ein Umbau notwendig wird, dann tanzen sie sich mit Musik statt Politik den Stress aus den Knochen. Videosequenzen und andere Effekte dürfen natürlich nicht fehlen. Dabei schießen sie, einer eher assoziativen, jedoch wenig konkreten Struktur folgend, phrasenartige (Schlüssel-)Sätze in die Gegend, in die man alles und nichts interpretieren kann. Ein pseudointellektuelles Performance-Feuerwerk, angeheizt von Corona und dessen seinerzeitigen Folgen.
Rezeption
Unmittelbar nach dem Ende des Streams wurde ein Publikumsgespräch angeboten, per Zoom, wie sich das seinerzeit gehörte. Eine ganz kleine Runde in den Kulissen wollte sich den Fragen der Zuschauer stellen, die sich während des Streams irgendwo zwischen 16 und 22 einpendelten. Am Ende ist einer geblieben, um eine Anmerkung zum gerade Gesehenen zu machen. „Es gehe ums Erleben, nicht ums Verstehen“ war dann also das Fazit.
Wir dürfen hier aber nicht außer Acht lassen, dass wegen Corona gegen die ultimative und quasi einzige Regel verstoßen wurde, nämlich, dass A sich im selben Raum befinden muss wie B, während er C spielt und das auch noch zur selben Zeit.
Demnach kann meiner Meinung nicht wirklich von einem Erleben, so wie eine Performance unter normalen Umständen erlebt würde, gesprochen werden. Denn ein Erleben setzt immer ein „live“ voraus, würde ich sagen. Sonst ist es ein Konsumieren. Eines, das im Falle „Schieß doch, Kaufhaus!“ auf vielen Ebenen überfordernd und nicht befriedigend war. Die Kameraperspektiven, die zwar live nicht möglich gewesen wären, sind ein zweischneidiges Schwert, denn die Kamera bestimmt, wann, was gesehen wird. Der Zuschauer selbst kann nicht wählen. Außerdem macht die Anwesenheit einer Kamera etwas mit den Spielenden, genau wie die körperliche Anwesenheit eines Publikums, nur in diesem Fall macht die genau das falsche. Obendrein haben wir hier auch noch eine sehr irritierende Mise en Scene-Situation: Warum soll man filmen, wie man Videos auf einer Bühne zeigt? Das ist in solch einer Gesamtsituation meiner Meinung nicht der Sinn eines derartigen Effekts, wenn ohnehin alles, was man sieht, sich auf einem Bildschirm abspielt und ohnehin Schwierigkeiten macht, zu fesseln. All dies könnten Gründe sein, warum die ohnehin geringe Anzahl an Zuschauern aus dem Livestream sich mit dessen Fortschreiten sukzessive ausklinkte.
Auch bei „Schieß doch, Kaufhaus!“ haben Theaterschaffende auf und hinter den Kulissen aus der Not der Corona-Zeit eine Tugend gemacht und sich einen Stoff ausgesucht, der thematisch gut passt. Jedoch haben ihnen Konzept und Inszenierungsmöglichkeiten einen Strich durch die Rechnung gemacht. Kamerafahrten- und Perspektiven mögen zwar live nicht möglich gewesen sein, jedoch sind diese der einzige Pluspunkt dieser der mehr oder weniger unfreiwilligen Aufführungssituation. Sie kompensieren allerdings nicht auch nur im Ansatz deren Unstimmigkeiten und Mängel. Eine energiegeladene und impulslastige Performance mit beinahe durchchoreografierten Bildern in einem Raum ohne Zuschauer aufzunehmen und sie dann Wochen später in einem Stream (der nicht einmal live war) abzuspielen, irritiert den Zuschauer, langweilt ihn und kann im Großen und Ganzen nur schiefgehen. Und auch die unterschiedlichen Kameraperspektiven helfen in diesem Fall nicht im Geringsten; sie irritieren eher noch zusätzlich. Sätze der assoziativen Struktur verkommen zu scheinbar willkürlich hingedreschten Phrasen, während die die Konzentration und die speziellen Energien eines Bühnenraums erst gar nicht aufkommen können und wenn überhaupt, zu so etwas wie destruktiver intellektuelle Hektik führen. Ein wirkliches Theatererlebnis im eigentlichen Sinne kann es nicht sein, denn das ginge ja nur live. Demnach ist es meiner Meinung nach auch kein Erlebnis im positiven Sinne. Es ist einfach ein Experiment, eine Notlösung. Nicht mehr und nicht weniger.
SCHIESS DOCH, KAUFHAUS! von Martin Heckmanns
Aufführungsrechte: Suhrkamp Theater Verlag.
Es spielten:
Annika Steiner – ÄTZ
Christian Köhn – KLAR
Julia Kopylova – KLING
Hinter den Kulissen:
Volker Hänel – Konzeption | Bühne | Regie
Ulrike Birgmeier – Assistenz
Franz Dulig – Bühnenmusik
Martin Junghans – Licht | Technik
Lukas Prelle – Kamera | Ton | Schnitt
Aufgenommen am 13. Juni 2021 auf der Studiobühne des Kulturhaus Dock4, Kassel
Weitere Aufführungen:
Mittwoch, 30. Juni 2021, um 19:30 Uhr
Sonntag, 4. Juli 2021, um 19:30 Uhr
Im Lauf meiner Rezensententätigkeit während Corona habe mich mir mehr oder weniger notgedrungen so einiges an Theaterstreaming zu Gemüte führen müssen und kann basierend auf meinen Erlebnissen definitiv ein Fazit ziehen. Obwohl die negativen Aspekte für mich weit überwiegen, konnte ich in der Tat aber auch den ein oder anderen positiven (für mich) entdecken. Die 2021er-Inszenierung des Theaters der Universität Kassel von „Schieß doch, Kaufhaus!“ Befindet sich aber in jedem Fall ganz weit am unteren Ende der Negativ-Skala. Dies ist jedoch keinesfalls dem Team und auch der Inszenierung Volker Hänels an sich geschuldet, sondern einzig und allein deren völliger Untauglichkeit für das Streaming-Modell.
Ätz, Klar und Kling wollen aus etwas ausbrechen, das größer und mächtiger ist als sie selbst und müssen sich am Ende dann doch mit den Drinnen arrangieren. Genauso wie wir es auch notgedrungen mit der Zweckentfremdung des Theaterbegriffs mussten - und das war nicht schön.
Meine persönliche Meinung
Man kann sich solche Sachen schönreden wie man will. Schön sind sie am Ende nicht. Und eine Verschwendung von Ressourcen, Ideen und Zeit. Geisterpremieren vor leeren Rängen, nur um weiterhin staatlich alimentiert werden zu können, sind ein Trauerspiel für alle Beteiligten. Mir kann keiner erzählen, dass jemand wirklich Freude an dieser Art von Theaterersatz hat und ihn einem Live-Erlebnis vorzieht. Diese Art Substituierung ist ein frustrierendes Perlen vor die Säue und kann niemandem, der das Theater/die Kunst aufrichtig von Herzen liebt, auch nur im Ansatz recht sein. Sie ist eine Beleidigung dieser Kunstform. Mal abgesehen davon war und ist diese Art aufzuführen der Gipfel der Dekadenz in einer Zeit, in der Ressourcen kostbar waren und jeder Euro in Bildung und Infrastruktur hätte investiert werden müssen. Ich spreche hier in erster Linie selbstverständlich nicht von einer kleinen Studententheatergruppe oder einer anderen Laienspieltruppen, die in erster Linie ihre Freizeit gestalten wollen, sondern eher von millionenschweren Großproduktionen mehr oder weniger namhafter Häuser und Produktionen, bei denen von vornherein klar war, dass diese direkt für den Mülleimer produziert werden. Einem interessierten Publikum Aufzeichnungen zukommen zu lassen, die es sonst niemals hätte sehen können, war wiederum eine gute Idee. Auf neue Produktionen direkt für die Mülltonne aber hätte die Corona-Zeit aber definitiv gut und gerne verzichten können.
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