Romeo und Julia am Staatstheater Kassel Kritik

Renaissance in der Disco


                                                                                                                                                    Symbolbild      ©pixabay/Samueles
Symbolbild ©pixabay/Samueles

Inszenierung

Verträumte und leicht geheimnisvolle Barmusik ertönt und Nebel hat sich ausgebreitet über dem in Sepiatönen gehüllten Innenhof. In dieser lauschigen Nacht erscheint eine junge Dame (Caroline Dietrich) mit dunkler schulterlanger Ponyfrisur. Ihr haftet der nonchalante Charme der 20er Jahre an. Zu zarten Klaviertönen begrüßt sie die letzten ankommenden Zuschauer: „ Der Herr, die Dame“. Sie ist eine Komikerin und sie ist der Chor im wohl berühmtesten Drama des wohl berühmtesten Dramatikers aller Zeiten: Romeo und Julia von William Shakespeare.

 

In Johanna Wehners 2018er Inszenierung am Staatstheater Kassel heißt ihre Rolle „Ein seltsames, Ja, Vögelchen“. Sie beginnt zu erzählen, und zwar Text, der so nicht im Drama steht, spricht direkt zum komplett gefüllten Zuschauersaal des Schauspielhauses ( Ja, mit dem bekanntesten Liebespaar der Theatergeschichte füllt man jeden Saal, egal, was da so auf der Bühne passiert), begrüßt einen letzten Zuspätkommenden („Ja, der Weihnachtsmarkt war voll“), während auf dem Balkon oben links ein Pulk Herren erscheint und gelangweilt darauf herumhängt. Später kommen sie runter. In der nächsten Szene sitzen alle zehn Figuren der Inszenierung schlaff und gelangweilt vorn an einem ovalen Blumenkastenbeet: Ihre Funktion hier: Partygäste. Das ursprüngliche Personal von 32 Figuren wurde auf zehn gekürzt und Meret Engelhardt, die später Julia darstellen wird, ist hier eine „junge Frau“ und Marius Bistritzky, der den Rest des Stückes über Romeo spielen wird, „lediglich“ ein „junger Mann“. Was hier aber seltsam anmutet ist, dass die fünf anderen jungen Männer (C1-MO2) wohl schon Capulets und Montagues sind, hier aber noch in – wenn auch schlaffer – Eintracht beisammensitzen. Aber die Nacht ist ja noch jung.

Die nächste Szene. Alle ab außer „Junger Mann“ und „Bruder“. Die werden, sobald alle anderen Personen die Bühne verlassen haben, zu Romeo und Bruder Lorenzo und führen ein intimes Gespräch über Romeos glückloses Liebesleben. Uwe Steinbruch interpretiert die Figur als väterlichen Psychologen. Dann geht das Fest weiter. Das spielt sich allem Anschein nach in der Kneipe auf der linken Seite ab. Der Retro-Zigarettenautomat weist den Weg.

Ab da treten dann auch die rivalisierenden Lager der Montagues und Capulets auf den Plan und dominieren einen wesentlichen Teil der Inszenierung. Ihre moderne flapsige Sprache inklusive des Running Gags „Montagus? Nein, Montagjuhs!“ bringt das Publikum durchgehend zum Schmunzeln, wenn nicht gar zum Lachen. Der beeindruckende Effekt des Simultansprechens dieser fünf Figuren ist ihm sogar einen Zwischenapplaus wert. Für großen Aufruhr sorgt eine auf der Bühne bespielte Sicherung, die durchknallt. Dieser Effekt geht bis in den Zuschauerraum über und sorgt für Erschrecken. Wenig später ist die Party in vollem Gange. Immer noch etwas lustlos tanzt das Personal des Stückes konzentriert auf einer kleinen Bühne angestrahlt von buntem Diskolicht. Ein Ausbrechen aus der sonst in sepia gefärbten Welt. Von dieser einmal bespielten Bühne aus hat man den besten Blick auf den Balkon zur Linken. Was wäre Romeo und Julia ohne den Balkon. Die Dramaturgie des Stückes arbeitet hin zur Balkonszene. In dieser Inszenierung wird das Bespielen dieses Elements meiner Meinung nach aber recht inflationär bedient. Zu Anfang versammeln sich die Herren darauf. Als Romeo und Julia sich das erste Mal sehen, steht sie dann aber auf dem Balkon und er unten in der Menge. Es sind aber die anderen, die sie bemerken und den Blick nicht von ihr abwenden können. Romeo selbst muss erst von seinem Sidekick Mercutio auf sie aufmerksam gemacht werden.

Diese explosionsartige Liebe auf den ersten Blick geht aber sofort im Chaos unter; Romeo sucht Julia, sie sucht ihn, er ist plötzlich oben, sie ist unten, alle sind verwirrt und laufen umher. „Romeo und Julia“, dieses berühmteste aller Liebespaare, geht unter. Warum aber ist das so? Ein möglicher Ansatzpunkt für diese Interpretation ist es, Liebe als Krankheit zu sehen, als psychophysisches Phänomen. Das ist ein Verweis auf die Zeit Shakespeares, als die Säftelehre eine Erklärung für alle körperlichen und seelischen Befindlichkeiten des Menschen lieferte. Da ist in der Tat etwas im Ungleichwicht. Ein Zuviel an schwarzer Galle, ein Zuviel an Melancholie stürzt ins Chaos. Auch heutzutage wird Liebe als ein biochemischer Prozess gesehen, bar jeglicher Romantik. Und dieser humoralpathologische Zustand scheint auch das Umfeld Romeos und Julias zu betreffen. Alle anderen Figuren sind ebenfalls befallen von Melancholie, obwohl sie meiner Meinung nach aufgrund ihrer Schlaffheit laut Temperamentenlehre Phlegmatiker oder aufgrund ihrer Aufgekratzheit auch Sanguiniker sein könnten ...

 

 

Das Verlieben als biochemisches Chaos

 

 

So wie die Liebe in dieser Inszenierung thematisiert wird, könnte man eben meinen, dass das Verliebtsein gar nicht passiert ist, zumindest nicht das "verkopfte" Verliebtsein, sondern der biochemische Prozess, den der Geist sogar anfangs nicht versteht. Indem Romeo sofort erschrocken beschreibt, was mit seinem Körper passiert, geht das Verlieben, das auf Kennenlernen basiert, verloren. Da hat schlicht und einfach Amors Pfeil geschossen und getroffen, mit solche einer Wucht und so überraschend, wie der Kurzschluss noch kurz zuvor. Dann hat man das Gefühl, dass es zumindest Romeo mehr erwischt hat als Julia, denn sie zeigt sich skeptisch, glaubt nicht, scheint sich dieser Liebe nicht sicher zu sein. Romeo ist schlicht und einfach, nun ja, ausgeliefert. Trotz allem Chaos kommen diese Liebeswirren aber leicht und verspielt herüber.

 

 

Die Toten als Lebende

 

 

Mit einer ähnlichen Distanz gestaltet sich auch das Sterben.  Der zweite und dritte Akt, die Trauung Romeos und Julias durch Bruder Lorenzo und der Kampf zwischen Tybalt und Mercutio, werden in Form eines Panoptikums dargestellt, während die Erzählerin ein Lied singt. Als die „kämpfende“ Gruppe daraus erwacht, realisieren sie, dass da anscheinend echt wer gestorben ist, doch das ist ein Trick, denn der betroffene Capulet lebt noch. Mercutio jedoch, den hat es anscheinend tatsächlich erwischt. Das Leben geht nahtlos in den Tod über, alles wird symbolisch angedeutet, es ist nicht klar, WIE getötet wurde, das nimmt dem Ganzen seinen Schrecken, aber auch seine Wirkung. Sobald jemand die Sphäre gewechselt hat, macht er Flügelschläge mit den Armen. Das erinnert an Engel - oder an ein Huhn. Die Inszenierung will möglicherweise nicht nur die Liebe, sondern auch den Tod hinterfragen. Sicher ist es auch eine pragmatische Lösung, die Toten unter den Lebenden weilen zu lassen, wenn keiner die Bühne verlassen kann und jeder der zehn Schauspieler gebraucht wird. Die Lebenden und die „Toten“ stehen als Pulk zusammen und bewegen sich nachdem Romeo verbannt wurde– nun wieder Partygesellschaft?! – philosophierend und sprachspielend Richtung Beet. Es ist grotesk, dass über die Toten geredet wird, in ihrer „Anwesenheit“ und auch die Verbannten über sich „selbst“. Ein solche fast symbolische Regie sorgt bisweilen für eine Komik, wo nicht immer klar ist, dass sie gewollt ist. Die Szene in der der Bote Romeo Bruder Lorenzos Brief nicht geben konnte, weil eine Seuche Mantua ereilt hat, wird in dieser Inszenierung so dargestellt, dass der Bote den Weg nicht findet, weil er von den anderen Bühnenfiguren in die Irre geleitet wird, indem sie ihm immer den falschen Weg weisen. Das bringt das Publikum zu Lachen. Inmitten dieser Sequenz sitzt Julia reglos auf der Bank. Auch als sie das „Gift“ trank, waren alle anderen anwesend, standen um sie herum. Als Romeo die „Gruft“ erreicht, sieht er Julia reglos auf der Bank sitzen. Er setzt sich dazu und die anderen, die um die beiden herumstehen, fangen an, seine möglichen Gedanken (?) laut auszusprechen. Jetzt fasst er Julia auch das erste Mal an, ist ihr nah. Vorher gingen Romeo und Julia als Paar im Chaos unter. Alles übertönte sie, die geckenhaften Streithähne, die eine Fehde um ihrer Dekadenz willen zu führen scheinen, das Fest, die .. Aber auch hier sind sie nicht allein. Romeo geht zum Beet und gräbt das Gift aus, der er zu Anfang des Stückes im Beet platziert hat und trinkt es, neben Julia sitzend. Diese erwacht und stellt ganz nüchtern fest, dass er ihr nichts davon übrig gelassen hat. Deshalb leckt sie die Flasche aus, seine Finger ab, um ihm in den Tod zu folgen. Ganz pragmatisch und ohne Schmalz und Pathos. Dann macht auch sie den „Engel“ und das Stück ist vorbei. Ein Glitzerregen ergießt sich über die Lebenden und die Toten, die Diskokugel fällt vom Himmel, eine Spieluhr ertönt und der Ein-Frau-Chor entlässt das Publikum mit den Worten „Seid glücklich“. Glücklich über diese Inszenierung ist aber nicht jeder, denn auf der Toilette nach der Aufführung äußert eine Zuschauerin sich darüber, dass sie lange nichts mehr so aufgeregt hätte wie diese Inszenierung. Romeo und Julia sind eben das bekannteste Liebespaar, und romantische Liebe schürt nicht selten Erwartungen, die dann nicht gehalten werden können.

 

Bühne und Kostüme - Renaissance als Stil

Das von Benjamin Schönecker gestaltete Bühnenbild lässt Assoziationen aufkommen. Es stellt einen Innenhof dar in einem retroartigen Verona der Fantasie. Die warmen gedämpften Farben lassen ein entrücktes, verträumtes Früher entstehen. Meist durch die Beleuchtung in Sepia gehüllt, wirkt die Bühne zeitlos und vintage zugleich. Diese an eine diffuse und nicht greifbare Vergangenheit erinnernden Töne sind aber auch die der Renaissance, der Zeit von Shakespeare und der von Romeo und Julia. Wenn wir davon ausgehen, dass Epochen sich nicht nur zeitlich chronologisch, sondern auch ästhetisch und stilistisch  aufeinander beziehen können, dann finden wir nach der (italienischen) Renaissance weitere Epochen, die entweder deren Geist (Aufklärung), deren Ästhetik oder auch beides fortsetzen und weitertragen. Diese Bühne lässt aufgrund ihrer Ausstattung deshalb vage ästhetische Bezüge zu den 20ern und viel mehr sogar zu den 60er oder 70er Jahren zu.

Die kleinen Fliesen, die Tapetenmuster, die Diskobühne, die filigrane Bank, die Bar an der Seite, der Herbstbaum oder die Blumenkübel gestalten und untermauern gemeinsam diese Art von Zeitgeist.

Die Bühne bleibt mit Ausnahme von Lichtwechseln die ganze Dauer des Stückes über gleich. Es gibt keine Umbauten.

 

Eine weitere Manifestation dieser Ästhetik sind die Kostüme, die eine glitzernde moderne Renaissance zeigen. Kostümbildnerin Ellen Hofmann arbeitet mit Samt, Satin und Spitze, warmen Farben und Pudertönen mit viel Gold. Julia trägt ein metallisches Corsagenteil über dem Tüllkleid. Die Glitzerhosen und Samtteile der Herren erinnern an die Diskozeit der 60er und 70er. Die älteren Figuren wie die Amme und Bruder Lorenzo glitzern dezenter in Schwarz und Grau.

Bühne und insbesondere Kostüme sind ein schöner Transfer, der das Inszenierungskonzept abrundet und demjenigen etwas fürs Auge gibt, dem vielleicht die Regie zu unkonvetionell ist, denn auch schon in Shakespeares Zeit wurde für das heterogene Publikum alles über Sprache, Requisiten und Kostüme dargestellt.

 

Fazit

Die Inszenierung Johanna Wehners ist sich der Ebenen bewusst, die dem Stück innewohnen. Sie distanziert sich von der eindimenionalen Sicht, das Stück als reine Romanze zu sehen und ist sich dem gesellschaflichen und zeitlichen Kontext bewusst, in dem es geschrieben wurde. Beschäftigung mit zeitgemäßen Themen wie der Temperamenten bzw. Säftelehre finden genauso Einzug in die Inszenierung wie die Frage "Was ist die Liebe ( an sich)?". Dabei regiert das Chaos der Biochemie. Dieser Kosmos an Fragen wird visuell in einer Art moderner und zeitloser Renaissance dargestellt. Die Sprache wird dabei teils modernisiert ohne an Kunstfertigkeit zu verlieren und bildet so ein ganz eigenes Stilelement bzw. Parameter neben Bühne und Kostüm. Romeo und Julia sind trotz aller Selbstbestimmung ausgeliefert: Ihren Hormonen, ihren Familien. Sie existieren im Kontext ihrer Zeit bzw. Gesellschaft und nicht ohne diese. In dieser Inszenierung wirken sie beliebig, genauso wie die 5, 6 austauschbaren Monagues oder Capulets / Partygäste.

Diese Interpretation Romeos und Julias ist nicht "traditionell", dennoch bisweilen unterhaltsam und schön anzusehen. Vom Text ist nicht viel übrig geblieben, ebenso von Emotionen und Liebe. Dafür gibt es viel Dekadez und Langeweile. Der zuzusehen ist nicht immer spannend. Dafür stellt die Inszenierung Fragen und stößt vor den Kopf, wagt sich oft weit vor, jedoch ohne den Holzhammer zu benutzen. Wer Romeo und Julia nicht kennt, der versteht vielleicht nicht gleich alles. Wer es kennt, der sieht das berühmteste Liebespaar der Theatergeschichte eventuell mit anderen Augen und mit skeptischerem Blick, weil er hier eben NICHT zum mitfiebern verleitet wird. Sprechchöre und durchgeknallte Sicherungen sorgen schon dafür und im Chaos der Biochemie geht manchmal der rote Faden etwas veloren, wird dann aber auf unkonventionelle Weise wieder aufgefangen.



Romeo und Julia

Schauspiel von William Shakespeare

am Staatstheater Kassel Spielzeit 2018/19

besuchte Aufführung: 14. Dezember 2018

weitere Vorführungen : 30.12.2018 // 23. 01.2019 / 03.02.2019 / 21.02.2019 / 23.02.2019 / 22.03.2019 / 04.04.2019 / 26.04.2019 

Spielort: Schauspielhaus.

Weitere Informationen hier.

 

  •  alle hier verwendetem Bilder sind Symbolbilder und zeigen NICHT die Inszenierung, sondern die Casa di Giulietta in Verona

Kommentare: 0