Das wichtigste vorab: „Operette“ (original: Operetka) von Witold Gombrowicz ist KEINE Operette, sondern eine Groteske, wenn man schon den Genrehammer schwingen will. Auch ist die Inszenierung Philipp Rosendahls für die Spielzeit 2018/19 des Staatstheaters Kassel kein Rap-Battle im Gewand einer Musical-Revue. Es ist irgendetwas dazwischen.
Gombrowicz, einer der großen Autoren der polnischen Literatur des 20. Jahrhunderts, der aus dem Landadel stammte und nebenher schrieb, war ein Liebhaber der Operette, kein Kritiker. Auf der ernsten Seite sah er sich nicht, sein Zugang zu Sprache war ein spielerischer. Auch seine Figuren dürfen unreif und Kinder sein. Die Kritik missinterpretierte seine Liebe zum Quatsch als Leichtsinn, dabei war es sein Anliegen eine nicht verlogene Form zu finden, sondern lediglich jeglicher Konvention die rote Karte zu zeigen.
Dieser Form gibt die Kasseler Inszenierung eine passende Folie und vor allem einen Soundtrack, der es in sich hat: Platz 85 der internationalen iTunes Hip-Hop-Charts für Komponist Thorsten Drückers Album „Operette Pt.1 (Music for Theatre No.4)“, das zeitgemäße Vertonungen der Texte des Schauspiels enthält und so aus „Operette“ musikalisches Theater macht.
Auf einer Bühne aus nebligem blau-grünem Zauberwald bewegen sich vier groteske Gestalten zu klassischer Musik, welche nach und nach kontinuierlich in Hip-Hop-Beats übergeht. Graf Charme Himalaj (Caroline Dietrich) erscheint, ein rappender Barockgraf im Männerkorsett. An der Leine führt er seinen Spitzbuben (Güney Korkmaz), einen seltsamen Typen in Netzhemd und Tarnhose, der sich kriechend fortbewegt.
In der Sequenz darauf tritt Graf Charmes Widersacher, Baron Firoulett (Konstantin Marsch) diesem gegenüber, begleitet von rotem Licht. Der Hofstaat, bestehend aus unter Anderem einem Augenlosen, einem Halslosen, einer bärtigen Frau und zwei Freaks mit Riesenstirnen macht seine groteske Tippelchoreografie (Choreografie Volker Michel) vor einer Wasserfallprojektion. Und wenn Graf und Baron sich batteln, dann aber richtig: Mit Worten in random Französisch und mit Fendi-Flinte, mit der Firoulett „auch schon mal ein Reh erlegt hat“. Charme (ausgestattet von Chanel) lässt sich aber nicht lumpen und weiß, wie er seinen Erzrivalen am besten überbieten kann: Indem er Prinzessin Albertinchen (Meret Engelhardt), dem Objekt seiner Begierde, einen Muff kauft! Eine Modenschau muss her, ausgerichtet von Designer Maestro Fior (Bernd Hölscher), der sich mit seinem Signature-Song, dessen Intro-Beats stark an „Pony“ von Ginuwine erinnern und 90er-R'n'B Nostalgie aufkommen lässt, vorstellt.
Albertinchen kommt aus der Kirche, bei der der Eingang aussieht wie eine Art „Höhlenei“ (Bühne: Daniel Roskamp). In einem Outfit aus Gesichts – und Armkondomen und einer Galaxie auf der Brust ihres Matrosenkleides wird sie vom Spitzbuben des Grafen Charme betatscht und ist deshalb überzeugt, dass sie den Grafen nackt will. OMG ! Graf Charme, der jede Frau, die er richtig heiß findet, anziehen und nicht ausziehen will, und mit Albertinchen das erste Mal einer begegnet, die „Nacktheit“ will, ist so geschockt, dass er in einem der Hits der Produktion (Rauschen, Rauschen, Rauschen) erst mal mit Firoulett darüber rap-philosophieren muss. Aber es ist ja auch alles viel zu viel: Make-Up, Kleidung. Das verursacht schon „Übersäuerung, Sodbrennen, Völlegefühl, Langeweile“, Themen, die sich wie ein roter Faden durch diese Geschichte ziehen.
In einer Welt, in der sich alles um Mode und Selbstdarstellung, um Besitz („Mein Mantel übersteigt dein Jahreseinkommen“) und um dekadenten Überfluss dreht, kann nur eine neue Mode helfen, also muss Fior ran, um den Menschen ein neues Aussehen zu verschaffen („Mode ist die Geschichte. Die Zukunft ist ein schwarzes Loch.“) Der Plan: ein Maskenball, wo alle ihre Kleidung unter Säcken verstecken sollen. Nur schaffen diese Säcke im Nachhinein aber auch eine Stimmung von Anarchie. Zwei der Säcke, der Professor (Philipp Basener) und Graf Hufnagel (Lukas Umlauft) , wollen die Revolution, denn die Prinzessin hat etwas losgetreten mit ihrer Forderung nach sogenannter „Nacktheit“. Davor ist aber erst mal Modenschau angesagt: Die Gaze lüftet sich, ein roter Laufsteg wird ausgefahren und es werden Kostüme präsentiert, die den Fetischladen um die Ecke aussehen lasse wie ein Geschäft für zünftige Trachten. Für Charme gibt’s aber erst mal Stress statt Strass, denn Firoulett hat sich jetzt auch einen Spitzbuben (Aaron Herold) an der Leine zugelegt, der nicht nur genauso ungezogen ist wie der von Charme, sondern auch noch haargenau so aussieht. Im Zuschauerraum dürfen sich beide Spitzbuben austoben, indem sie über die Reihen klettern, nachdem sie von ihren Herren von der Leine gelassen wurden.
Dann Nebel, es herrscht Chaos, die Säcke werden ausgezogen und im Dunkel tritt einer mit Taschenlampe auf und fragt in die Stille „Was ist denn hier passiert? Irgendwas mit Nacktheit?“
Nazischergen durchsuchen das Publikum, das mittlerweile in einen Spiegel schaut, wörtlich gesprochen. Das Spiel passiert inzwischen im Zuschauerraum (wo die Spielenden auf Podesten in den Reihen agieren). Fior, der noch auf der eigentlichen Bühne steht, ist alles entglitten. „Was ist das für eine Revolution?“ Dann wird es hell, alles wird sichtbar. „Also an Wahnsinnigen fehlt es nicht.“ Der Spiegel ist immer noch da. Die Figuren beginnen damit, ihre Masken abzulegen und wieder Menschen zu werden. Zu Gitarrenakkorden erzählen sie wer sie mal waren, entledigen sich ihrer Items (Prinzessin Himalaj reißt sich ihren mit Klettverschluss an der Perücke befestigten Dutt ab, dass es beim Zusehen schmerzt) und reflektieren darüber, wer denn nun Schuld sei: Albertine oder der Spitzbube? Die Suche nach Albertines Leichnam beginnt, nein, nicht nach ihrer Leiche, sondern ihres nackten Leibes. Ein holografischer Sarg wird an die Wand projiziert, alle wollen hinein, bzw. ihren modischen Plunder hinein legen. „Die Zukunft ist offen, wir müssen sie machen.“ Dann erscheint am Schluss doch noch Albertinchen – nicht nackt. Die die die ganze Zeit über schwieg, während alles um sie herum sie übertönte, singt nun als großer an die Wand projizierter Kopf. Die Fetischmaske ist weg und man sieht ihr Gesicht. Der Decker fährt hoch und sie wird im Bademantel erwischt, ein Ansatz von Brust ist zu erahnen. Am Ende gibt es nach drei Applausrunden eines ca. zur Hälfte besetzten Saales nochmal „Ich kauf ihr einen Muff“ quasi als Zugabe.
Indem Gombrowicz, der sich jeglicher Konvention gegenüber stets ablehnend verhielt, mit einer Revolution von Lakaien durch Nacktheit über einen dekadenten und übersättigten Mode-Adel dem Operettengenre und seinen Zuschauern einen dekonstruierenden Spiegel vorhält und damit eine Gesellschaftssatire abliefert, die 1966 noch Bezug auf faschistische Regime nimmt und am Vorabend der Studentenrevolten und der Hippie-Zeit mit ihren Ideologien der sexuellen Befreiung tatsächlich ziemlich starker Tobak gewesen sein muss, hält er mit „Operette“ den Geist dessen Entstehungszeit fest.
Im Jahr 2019 manifestiert sich diese nackte Anarchie noch vor der Premiere der Inszenierung in einem großangelegten Marketing-Gag mit 250 Nackten, nach denen Anfang des Jahres bundesweit gesucht wurde. Gefunden wurden sie und werden dem Zuschauer während der Inszenierung einige Minuten als Spiegel vorgehalten.
Auf operettenhafte Dekadenz antwortet Regisseur Rosendahl mit einem grellen überdrehten Musical-Hybrid auf der Folie aktueller Blüten des Narzissmus und der Selbstinszenierung: Selfie-Stick und Instagram-Filter. Aber im Gegensatz zu zum Beispiel Alligatoahs „Du bist schön“ - Video, um mal den popkulturellen Vergleichshammer zu schwingen, bedient er sich dieser Elemente nicht direkt, sondern schafft mit Hilfe von Bühne und Kostüm eine sich jenseits jeglicher Zeiten und Epochen befindende grelle, leuchtende vor Mondänität überbordende Fantasiewelt, die jenseits aller Botschaften und Aussagen der Inszenierung eines auf jeden Fall tut: Spaß machen und das nicht zu knapp. Wenn die überzogenen Charaktere, dargestellt von einem insgesamt überzeugenden Ensemble, anfangen zu tippeln und zu rappen, dann macht das Eindruck, fesselt und unterhält denjenigen, der sich darauf einlässt, verdammt gut. Doch wenn dieses Prinzip einmal verstanden wurde, und das sollte recht schnell der Fall sein, dann wird es langatmig, und man hätte sich das ein oder andere Performance-Muster sparen können, wären Kürzungen an der ein oder anderen Stelle, wenn die Handlung droht zu entgleiten und nur durch den nächsten Song wieder aufgehalten wird, manches Mal vielleicht nicht die schlechteste Entscheidung gewesen. Und gerade am Ende wenn die Bühne gekippt ist und alles im Zuschauerraum stattfindet, gibt es dann so manch langatmigen Moment mangels möglicher Überraschungen und das Nahen des Endes ist dann auch keine allzu schlechte Sache.
Dennoch: „Operette“ ist anders, „Operette“ macht Spaß und ist schon allein wegen des eingängigen Soundtracks einen oder gleich mehrere Besuche wert.
Operette
Schauspiel von Witold Gombrowicz, Musik von Thorsten Drücker
am Staatstheater Kassel Spielzeit 2018/19
besuchte Aufführung: 8. Juni 2019
Wiederaufnahme ab dem 23.11.2019 // weitere Aufführungen : 29.11.2019 / 12.12.2019 / 29.12.2019, jeweils 19:30 Uhr
Spielort: Schauspielhaus
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