Zwischen Tanz, Schauspiel, bildender Kunst und Musik bewegt sich das Belka&Strelka-Kollektiv aus Kassel, eine Gruppe aus freien Künstlern, die in verschiedenen künstlerischen Richtungen tätig sind. Gegründet von Sofia Sheynkler, die unter Anderem in Tanz, Schauspiel, Theaterpädagogik und Gesang ausgebildet ist, umfasst das Kollektiv derzeit acht feste Mitglieder die bei manchen Projekten gemeinsam Entscheidungen treffen während bei Anderen die künstlerische Leitung das Schlusswort hat. Dennoch liegt der Fokus auf der gemeinsamen Arbeit, die von allen Fähigkeiten seiner verschiedenen Mitglieder auf diese Weise optimal profitieren kann. Dementsprechend vielseitig und verwoben sind die Inszenierungen bzw. Projekte, die nie bsw. reine Tanztheater-oder Schauspielstücke sind, sondern den Zustand der Schwelle nicht nur als Inhalt sondern auch als Form ausweisen. Auch ihre aktuelle Produktion, das Tanztheaterstück „On the way (to somewhere else)“, das zeitgenössischen Tanz, Schauspiel, Musik, Sounds und sogenannten Live-Trickfilm vereint, vereint auch diese Schwellenzustände und erzählt mit ihnen eine einstündige Geschichte, die Ende November 2019 im Dock 4 Deck1 ihre praktische ausverkaufte Premiere feierte.
„In einer verlassenen Welt, in einem verlassenen Land, einer verlassenen Stadt auf einem verlassenen Bahnhof“ warten drei junge Frauen auf einen Zug, der erst verspätet und schließlich gar nicht eintrifft -und das auch noch am Silvesterabend. Dieses Szenario, wie es nerviger aber auch bekannter nicht sein könnte ist die Folie für einen künstlerischen und philosophischen Umgang mit dem Thema Warten. Das erste was der Zuschauer sieht, ist, wie beim Reingehen im den Saal kleine Folien mit Wörtern darauf an die Bühnenwand projiziert werden von Schattenhänden, die zu der Ausstatterin des Stückes und Kollektivmitglied Charlotte Bluhme gehören, die ein paar Hasenohren trägt, während sie auf dem Boden vor der Bühne sitzen, einen Overheadprojektor bedient. Die Schrift wird verschwommener, wird schärfer gestellt, dazu unaufdringliche elektronische Musik (Musik und Sound: Kollektivmitglied Max Eschenbach) und eine Hand, die plötzlich alles wegschiebt und „3112“ auf eine rote Folie schreibt.
Von rechts kommen drei junge Frauen (Kollektivmitglieder Mareike Steffens, Svetlana Smertin und Tina Machulik)angerannt, außer Atem bleiben sie stehen. Durch einen auf die Folie gemalten Bahnhof wissen wir wo wir uns befinden. Dann eine Ansage: Der Zug wird sich verspäten. Es werden Taschentuch, Lippenpflegestift und aus den mitgebrachten Koffern und Taschen geholt, als die Ansage weitere Verspätungen ansagt: 10, 20, 30 Minuten bis der verspätete Zug schließlich ganz ausfallen soll. Dann kommen die Frauen ins Gespräch: Ein Taxi soll gerufen werden. Für die Suche nach Netz geht eine (Smertin) sogar ins Publikum, sucht am Boden Die ohne Handy ist verwirrt und panisch (Steffens). Die Zuschauer schmunzeln ob der mehr oder weniger bekannten Probleme der unsicheren Zugansagen und/oder dem schlechten Handy-Empfang(„kein einziger Strich“).
Nur eine scheint die Ruhe selbst (Machulik) und läuft mit ihrem roten Koffer umher („Man muss ja nur Warten“). Als es anfängt zu regnen (dafür wird auf dem Overhead Wasser in eine Schale geschüttet) macht das die Situation natürlich auch für den geduldigsten Wartenden nicht besser und alle drei suchen Schutz unter dem einzigen Schirm, den seine Besitzerin aber nicht teilen möchte. Sie dreht ihn herum, rennt mit ihm weg und aus diesen ersten Bewegungen entsteht die erste Tanzsequenz des Stückes. Nachdem die Bewegungen sind ausgedünnt haben, ist es still und jede Darstellerin ist für sich allein: Die eine sucht noch immer Schutz unter ihrem Koffer (Machulik), die andere Netz (Smertin) während sie Weisheiten von sich gibt, die Dritte ist wieder panisch (Steffens) und spricht aufgeregt ein Mantra um sich zu beruhigen. Inmitten dieser durch das immer schneller werdende Sprechen entstandenen Geräuschkulisse, versucht die Kofferträgerin (Machulik) angestrengt, sich Gehör zu verschaffen. Als sie es schließlich geschafft hat, hält sie einen Monolog („Ich kann Warten“). Parallel dazu entwickeln die beiden anderen Frauen wieder eine Bewegungschoreo, die in Versuche, einen an die Wand gestrahlten Laserpointerpunkt zu fangen, münden.
Während ein Zuschauer für sie einen Ballon aufpusten soll, gibt die Kofferträgerin mit fast feierlichem Ernst eine Kostprobe eines der von ihr während des Wartens ausgedachten Gedichte. Der Ballon ist unterdessen fertig aufgepustet und der Zuschauer bekommt von der „Meisterin des Wartens“ ein Stück Möhre als Dankeschön. Auch von einer von ihr während eines längeren Wartevorgangs beigebrachten Sprache gibt sie mit traurigem Ernst eine Kostprobe, was die Situation umso absurder wie auch komischer macht. Dann erscheint eine Luftpolsterfolie auf der Projektionsfläche, die zerdrückt wird, während die nächste Choreo, diesmal wieder unter Beteiligung aller drei Darstellerinnen stattfindet. Die werden offensichtlich hin und hergetrieben vom Wind; ein pfeifendes Geräusch in der Soundkulisse passt dazu. Der plötzlich live gesprochene (Sofia Sheynkler) allseits bekannte „Sicherheitshinweis“ („Lassen Sie ihr Gepäck nicht unbeaufsichtigt“) erinnert uns daran, dass wir uns nach wie vor auf einen Bahnhof befinden. Die Darstellerinnen interagieren inzwischen frei mit der an die Wand als Schatten projizierten Hand der Projektorbedienerin und „fassen“ sie an. Dazu zählt eine Tonbandstimme Gegensätze auf („Zwischen...und...“). Dann singt eine Dastellerin (Svenlana Smertin) den Song „A moment like this“ mit fast opernhaften Attitüde, aber keineswegs steif und bekommt Zwischenapplaus („Danke, ich liebe es für Sie zu performen“).Dieses erfrischende und ungeahnte Intermezzo wird sogleich von der Panischen (Steffens) geahndet, die die Sängerin wieder in ihre „Zwangsjackengewand“ wickelt, das diese die ganze Zeit über trug und hält sie fest, so dass diese nicht weg kann. Die dritte zieht jetzt das andere Ende der beiden Ärmel und die auf das Oberteil gemalten Bahnschienen werden sichtbar, die hinten zeitgleich auf der Projektion gespiegelt werden. Nach der Ansage die allen ein „Frohes Neues Jahr“ wünscht (Richtig, es war ja Silvester) nehmen alle drei wieder ihre jeweilige Tasche. So stehend sind sich auf einmal alle eilig („Der Weg ist das Ziel“) und beginnen eine gemeinsame Choreo, die letzte des Stückes. Dann geht eine wieder mit Handy in Richtung des Publikums um erneut ein Taxi zu bestellen, das Haar der Kofferträgerin, anfangs zu einem Zopf gebunden hat sich inzwischen gelöst. Die drei sind außer Atem, es wird eine rote Folie aufgelegt und es wird dunkel. Plötzlich die Ansage mit der wohl keiner so mehr gerechnet hätte: „Der verspätete Zug fährt nun ein“. Ein paar Sekunden Pause, es wird wieder hell und nach gut einer Stunde dann der endgültige Applaus.
Eingebettet in eine Handlung, die zugleich bekannt und alltäglich aber gleichsam eine Ausnahmesituation darstellt, wird mit diversen Kunstformen und Darstellungselementen gespielt, so dass diese subtil ineinander übergehen, sich überschneiden oder gar ineinander verschwimmen: Die Choreografien entstehen aus Situationen, aus Schauspiel wird plötzlich Tanz, aus einer Tanzeinlage entsteht eine Gesangseinlage. Jede der Tänzerinnen hat eine Figur geschaffen, die ihre eigene Art hat mit der Situation umzugehen, irgendwo zwischen Abfahrt und Ankunft, Vergangenheit und Zukunft ist da noch eine Meta-, eine philosophische Ebene. Neben den Darstellerinnen ist das gesamt Kollektiv anwesend, Ausstatterin Charlotte Bluhme bedient die Effekte auf dem Projektor (bezeichnet als Live-Trickfilm), Musik und Sounddesigner Max Eschennach sitzt am Technikpult und die Künstlerische Leiterin Sofia Sheynkler spricht vor der Bühne sitzend Live-Ansagen. Am Schluss verbeugen sich dann auch alle Beteiligten.
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