Schauspielschule Kassel Kokoro Kritik

Das Herz aller Dinge


© Norbert Risch/ Marcel Meile
© Norbert Risch/ Marcel Meile

Der japanische Ausdruck „Kokoro“ lässt sich in etwa mit „Herz aller Dinge“ übersetzen.

Die junge deutsch-georgische Autorin und Regisseurin Nino Haratischwili (*1983) entwickelte ein Episodenstück mit dem Namen Kokoro, das von drei Menschen erzählt, due zunächst nichts zu verbinden scheint.

Als Auftragsarbeit für das Saarländische Staatstheater 2012 unter der Regie Haraschwilis selbst uraufgeführt, ist es als Stück „über Verständigungsschwierigkeiten zwischen Menschen, die dieselbe Sprache sprechen, und die wundersame Fähigkeit, einander zu verstehen, wenn man dies nicht tut“, für ein deutsch-georgisches Ensemble konzipiert und mit deutschen und georgischen Passagen versehen. Es geht um die Lebensläufe von neun unterschiedlichen Charakteren, die in lose aufeinander folgenden Episoden aufeinander treffen. So verschieden die Charaktere und ihre Schicksale sind, bilden sie im Laufe der Erzählung ein Beziehungsgeflecht aus sich bedingenden Strängen, denn ihre Schicksale eint, dass sie aus der Situation heraus entstehen, in der die Welt sich befindet. Einer Welt, bei der das Gleichgewicht aus den Fugen geraten ist:

„(...)Wenn das Gleichgewicht der Welt aus den Fugen gerät, dann erwacht Kokoro, dann rächt es sich und lässt die Welt büßen. Alle Kriege und Katastrophen, die passieren, sind Tränen von Kokoro ... Kokoro ist grausam, aber es ist gerecht.“ Das erzählt die Figur Frank Sinatra, ein Obdachloser, der Literaturzitate gegen bare Münze anbietet der Literaturwissenschaftlerin Leila, nachdem diese ihm gesteht, dass sie einer Frau aus ihrer Heimat, die mit einem Politiker verheiratet ist, bei der sie putzt, das Baby eines 17-jährigen ungewollt schwangeren Mädchens verkauft hat. Das ist der erste Moment, wo sich zwei der vier Handlungsstränge berühren und zu einem Größeren werden. Irgendwo parallel machen sich der Transsexuelle Una und die alternde Filmdiva Winnie (eine Blache du Bois-Figur) auf, um Winnies 17 Jahre lang verschollenen Mann, der sich am Ende als seit 17 Jahren tot herausstellt, aufzusuchen, während im vierten Handlungsstrang die Soziologin Deborah und der Aktivst Noa lernen, dass sie sich selbst helfen müssen bevor sie anderen helfen. Irgendwo in diesem Kosmos befindet sich die italienische Mittelmeerinsel PIEP, die Assoziationen zu einer abstrakten Flüchtlings- und Kriegsproblematik aufkommen lässt, ohne auf reale Schauplätze zu verweisen.

Zwei Hauptstränge, zwei Expositionen, Verknüpfungspunkte und ein am Ende möglicherweise wieder hergestelltes Gleichgewicht nach zwei tragischen Todesfällen in Form des Babyfundes durch Frank Sinatra am Ende des Stückes machen den Rahmen des Episodenstückes Kokoro und seiner spezifischen Struktur aus.


Einen szenischen Umsetzungsversuch wagte 2019 auch die Schauspielschule Kassel unter der Regie von Rafael Meltzer und Carla Schmelter mit der Abschlussinszenierung des derzeitigen sechsten Semesters. Ein Grund für die Wahl des Stückes Kokoro sei dabei die Möglichkeit gewesen, so jedem der neun Studenten in etwas gleich viel „Stage-Time“ zu ermöglichen, sind die Aufführungen doch auch Teil der Abschlussnote. Trotz der dritten Aufführung hintereinander ist die Vorstellung bis auf den letzten Platz ausverkauft.

 

Ein diffuses Radiosendersuchrauschen ertönt über der dunklen Studiobühne des Dock 4 Deck1, während die neun Figuren des Stückes nacheinander die Bühne betreten und sich in den zum Zuschauerraum hin offenen schwarz-weißen Stuhlrechteck lose platzieren. Während des Prologes, in dem jeder Charakter vortritt und seinen Vorstellungstext darlegt, fällt auf, dass jede Figur komplett in einer ihr zugeordneten Farbe gekleidet ist, von der Farbe der Handtasche bis hin zu Lidschatten, Nagellack und Schuhen, was neben dem reduzierten Bühnenbild aus schwarzen und weißen Stühlen, einem Tisch mit Geschirr, einem Laken und zwischen den Stühlen sich befindenden Wasserflaschen, zu einer symbolischen Ästhetik der Inszenierung beiträgt, die gut widerspiegelt, dass es in Kokoro nicht um einen konkreten Ort oder eine konkrete Zeit geht, ist ja nicht einmal klar, wie die Insel, um die es im Stück geht, wirklich heißt. Die Inszenierung folgt der Chronologie der Episoden. Striche oder Umstellungen wurden praktisch keine vorgenommen.

Alle Schauspieler befinden sich die ganze Zeit über auf der Bühne. Wenn sie nicht in ihren jeweiligen Rollen agieren, dann sitzen sie auf den Stühlen, schauen zu und reagieren mimisch auf das Geschehen der jeweiligen Episode oder spielen Passanten, Reporter, Spiegelbilder, undefinierte Menschen, ausgestattet mit und anonymisiert durch spiegelnde Sonnenbrillen. Verbal spielen sie Autoradio und Roadmovie-Geräuschkulisse, sind dafür zuständig bei Rückblenden den richtigen Soundtrack einzusingen oder zu spielen, mit dem Schütteln der Wasserflaschen ein Meer zu simulieren, in den Episoden, die in Restaurants spielen, hinzugedichtete Kellner und Gäste zu spielen, die in dieser Funktion auch die materiellen Überreste eines Effektes aus einer vorherigen Episode beseitigen. Als Una und Winnie in Episode 10 tanzen, baut die Inszenierung (Choreografie: Tina Machulik) diesen Partnertanz zu einer größeren Sequenz aus, bei der die Darsteller erst in den Reihen sitzend mit dem Oberkörper mitgehen und dann auch episodenbezogen paarweise (Maja hängt sich hüpfend an Marina und Robert dran) zur Musik Frank Sinatras (dem Sänger, nicht der Figur!) tanzend und unter Applaus dafür in die Pause einleiten.

Der zweite Teil wird – losgelöst von den Episoden – von „Fly me to the moon“, gesungen von Layla Middeke und gespielt von Philip Heines an der Talkbox, eingeleitet. Die Pause wurde geschickt gesetzt, verdichten die Konflikte sich doch in den letzten 40 Minuten des Stückes. Auch die Episoden verknüpfen sich dort und aus vier Strängen werden zwei. So kommen Marina und Leila sich von zwei Seiten des Stuhlkreises entgegen, als ise beschließen Maja zu suchen und das Telefongespräch von Una und Noa das offenbart, dass Noa Winnies Sohn ist, findet an einem Flughafen statt, an dem alle Darsteller durch Punktgehen eine große öffentliche Menschenmenge simulieren. Hier wird die stückimmanente vierte Wand der Episoden untereinander auch kurz aufgebrochen, indem die Figuren sich tatsächlich sehen und miteinander reden und nur durch die zwei Reihen bildenden anderen Darsteller davon abgehalten werden können, aufeinander loszugehen. Eingebettet ist diese Sequenz in eine Noa-Deborah-Episode, in der sie sich am Ende küssen. Deborahs mehrmaliges Schnipsen als Zeichen für einen Szenenwechsel wird von den um sie herumsitzenden Darstellern aber geflissentlich übersehen, wollen sie dem Spektakel doch zuschauen. Das Umstellen der Bühne nach jeder Episode wird durchgehend durch ein Schnipsen oder Klatschen der Darsteller oder in einem Fall auch durch eine Ohrfeige eingeleitet. Mit diesem Element wird auch insofern gespielt, als das nach der Pause das Klatschen erst erfolgt, nachdem zu spät gekommene Zuschauer auf ihren Plätzen angekommen sind. Als das Stück sich dem Ende zuneigt ist das erste Happy-End bereits mit dem Kuss von Noa und Deborah erfolgt, das zweite in Form der besiegelten Freundschaft zwischen Una und Winnie am Grab deren Ehemanns ebenso, so dass in Episode 19, der letzten, die Katastrophe des Stückes passiert, indem Robert und Maja sich gegenseitig umbringen, und kurz darauf von Marina und Leila gefunden werden. Majas verschwundenen Baby taucht noch in derselben Episode „zur selben Zeit in einer anderen Stadt, aber immer noch in der gleichen Welt. Vielleicht mit weniger Sonne, mit mehr Regen, um die Gegensätze zu betonen“, wieder auf und wird von Frank Sinatra gefunden, der es auf den Namen Oscar (Wilde?) tauft und damit so etwas wie eine Klammer schließt. In der Inszenierung begegnen sich in diesem Schlussbild auch das erste Mal alle Darsteller symbolisch ohne ihre Sonnenbrillen und werden auf der Bühne vereint.


Poetisch-symbolische Bilder fügen die Episoden nicht gerade ungeschickt und logisch zusammen. Die Übergänge kommentieren die Episoden genauso wie Haratischwili es bereits mit ihren Überschriften für diese tut.

Das an eine minimalistische Arena erinnernde Bühnenbild in Kombination mit der mehr oder weniger offensichtlichen markanten Farbsymbolik der einzelnen Figuren bietet einen nicht uninteressanten Inszenierungsversuch dieser symbolisch parabelhaften Erzählungen. Trotz moralischer Tendenz trägt Kokoro aufgrund seiner Personenkonstellationen Konflikte in sich. Im zweiten Teil, in dem diese sich verdichten, kommen sie auch vollends zu tragen und führen zu einem Klimax. Jedoch hätten die Konflikte bereits im ersten Teil besser herausgearbeitet und langsam aufgebaut werden können, so dass eine Verschärfung dieser Konflikte logisch und nicht wie aus der Luft gegriffen erschienen wäre. Insbesondere die Liebesbeziehung zwischen Deborah und Noa hätte besser aufgebaut werden können. Auch hätte der erste Teil vor der Pause straffer, kürzer und mit weniger Wiederholungen ausfallen können. Der inszenatorische Rahmen samt passenden Regieideen zur Umsetzung praktischer Dinge ist insgesamt passend und stimmig.

Eine besonders klare Herausarbeitung ihrer Figur leisten Lea Martina Hübner als Winnie und Pascal Hettler als Una. Hier stimmt auch die Beziehungsentwicklung von Seiten der Regie. Layla Middeke überzeugt als verklärt-verpeilte Deborah, Philip Heines zeigt als Frank Sinatra humorvoll-lockere Facetten, doch auch bei ihm und Leila (Natalie Nowak) hätte die Beziehung klarer herausgearbeitet werden können, Antonia Leonie Kohlstedt mimt glaubhaft die naiv-aufgedrehte 17-jährige Maja, Martha Angel Gräbenitz und Jens Meyer das steife Politikerehepaar, bei dem alles mehr Schein ist als Sein und Lukas Robin Dörr den etwas arroganten unnahbaren Aktivisten.



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