Vor 20 Jahren wurde Leoš Janáčeks dreiaktige Oper Jenůfa, die auf einem Schauspiel Gabriela Preissovás (Ihre Ziehtochter) basiert, zum letzten Mal am Kasseler Staatstheater aufgeführt. Für die Inszenierung der Spielzeit 2017/18 griff man auf die tschechische Originalversion des Librettos zurück, die 1904 am Nationaltheater in Brünn bei ihrer Uraufführung einen großen Erfolg feierte. Dennoch hat man sich für den Titel der deutschen Version (Jenůfa), die 1918 am Wiener Hoftheater das erste Mal über die Bühne ging, entschieden und nicht für das tschechische Original Její pastorkyňa.
Jenufa nämlich ist der Name der Hauptperson der Geschichte, einer jungen Frau, die Opfer der Verhältnisse wird, in die sie hineingeboren wurde, so platt das auch klingt.
Die Verhältnisse, die Janáček damit meinte, sind die des mährischen Bauernlebens des späten 19. Jahrhunderts, Regisseur Markus Dietz stellt sich dieses Milieudrama in einem Waschsalon vor. Wo der steht, ist irrelevant. Wann auch, denn die verschiedenen Elemente der Kostüme deuten auf eine diffuse Postmoderne ab den 1980er Jahren hin.
Die Oper ist durchkomponiert, da sie einen von Janáček selbst verfassten Prosatext als Libretto hat. Daher dient die Sprachmelodie als Wegweiser für die musikalische Gestaltung, denn die Melodik ist eng verwoben mit der Sprachmelodie. Die Originalsprache zu verwenden ist daher klug, wenn man der Komposition Rechnung tragen will. Wozu gibt es denn Übertitel. Zwar ist hier eine ungeschickte Formulierung dabei („Gibst du mir nicht die Hand“ statt „Reichst du mir nicht die Hand“), tut aber eigentlich rein gar nichts zur Sache. Sollte nur mal erwähnt werden.
Der Orchestersatz bildet den Untergrund zu ebendieser Wortmelodie und ist durchsichtig, oft polyrhythmisch und repetitiv. Er ist so gestaltet, dass er die Singstimmen auch bei expressiven Ausbrüchen nicht erdrücken soll, damit das gesprochene bzw. gesungene Wort nicht untergeht. Das ist meiner Meinung nach nicht beachtet worden, denn das Orchester war fast durchgehend zu laut, oder die Sänger zu leise. Zwar hat Generalmusikdirektor Francesco Angelico die dem Orchestersatz innewohnende Dynamik und alle Farben gewohnt differenziert herausgearbeitet, aber bei den eben erwähnten expressiven Ausbrüchen der Musik, bei denen sich das Orchester bisweilen sehr reingesteigert hat, ging dann doch beim ein oder anderen Sänger mal eine Phrase unter, zumindest da wo ich saß. Also nicht an allen Stellen genug ausbalanciert. Natürlich könnte man das auch so deuten, dass die Musik ausdrückt, wofür den Figuren die Sprache fehlt, und sie deshalb an und an übertönt werden. Ich habe also nichts gesagt.
Nachdem ganz zu Beginn der Oper eine weiße Schrift auf einer Wand erscheint, die dann durchsichtig wird, kommt hinter dem Schleier der Waschsalon zu Vorschein. Das komplette von Mayke Hegger entworfene Bühnenbild ist voll Waschmaschinen, Wäschebergen und Kartons. Es werden mehrere Ebenen bedient. Oben in einem Halbkreis stehen die Waschmaschinen in einer Reihe. Darunter dann wieder in einem Halbkreise auf der Ebene eins tiefer. Nach einiger Zeit wird ein riesiger Berg aus Wäsche aus dem Boden hochgefahren, mit das eindrucksvollste Element der Bühne, auch weil sich der Chor darin versteckt hat, der beim Hochfahren langsam herausgekrochen kommt. Dieser Berg wird von den Figuren erklimmt, sie bringen die Unmengen an Wäsche durcheinander, die kaum zu bewältigen ist. Einige Teile scheinen abgenommen werden zu können, das meiste aber ist fest. Als er sich im zweiten Akt dann in der Versenkung befindet, liegen nur noch einzelne Wäschestücke herum, denn nun wäre der Berg über ihnen. Die Szene spielt im Keller. Neben Tischen und Kartons gibt es im Untergeschoss einen Kühlschrank. Am Rand der Bühne befindet sich dauerhaft ein Waschbecken mit einem Spiegel. Der Wäscheberg befindet sich auch im dritten Akt, der Hochzeitsszene, hinter einem riesigen Banketttisch, so dass man an eine Art letztes Abendmahl vor einem Wäscheberg denken kann. In Punkto Lichteffekte fällt auf, dass sie im letzten Akt weniger düster ausfallen als in den beiden Akten davor, dem Salon und dem Keller darunter. Zum Waschsalon der Hölle wird er mit rotem Licht, auch wenn es aus der mittleren Trommel rot leuchtet, immer wenn das tote Baby ins Spiel kommt.
Alle drei Akte werden von einer weißen Schrift eingeleitet, die einen Satz schreibt, der eine Art Überschrift für den jeweiligen Akt ist und Jenufas Innenansicht beschreibt. Allesamt sind sie hoffnungslos und traurig („Ich habe mir das Leben anders vorgestellt“, „Ach, du siehst ja, dass mein trauriges Leben einsam enden soll“). Die Originalsprache wegen der Sprachmelodie zu verwenden ist immer sinnvoll, auch wenn sich bei den Übertiteln ein ungeschickter Übersetzungsfehler eingeschlichen hat. Reichst du mir die Hand anstatt Gibst du mir die Hand, wären in einem Zusammenhang geschickter, aber wir zählen hier ja wirklich Erbsen.
Auch im Kostümbild von Henrike Bromber spiegelt sich der Gedanke der Inszenierung wider, einzelne Individuen zu zeigen, von denen jeder, passend zur Persönlichkeit, dem sozialen Status, der eigenen Situation etc. individuell eingekleidet ist. Es gibt schlichtere und auffälliger gekleidete Figuren. Jenufa selbst, die ihren tristen Alltag in der Wäschrei in Blümchenkleid und Kittelschürze bestreitet, trägt sogar an ihrem Hochzeittag ein schlichtes weißes Kleid und macht setzt sich so dem Gespött der Dorfproleten aus. Deren 80er-Look mit big hair im Sinne von "Landei stadtfein gemacht", der sich bei der Richtersfrau in pinkem Pelz und bei der Hirtin in Leopelz manifestiert, lässt sogar Peggy Bundy wie eine modische Minimalistin aussehen. Ja, auf dem Dorf herrschen eben anderen Sitten wie dem Libretto zu entnehmen ist. Richterstochter und Partymaus Karolka ist mit ihren weinroten Overkneesockboots jedenfalls modisch auf der Höhe. Die Damen von Opernchor, die im Hintergrund mit pinker Banderolle und Schleier mitfeiern, lassen jeden Jungesellinnen-Abschied alt aussehen. Als sie an früherer Stellen mit Steva die Wäscherei aufmischen tragen sie aus unerklärlichen Gründe allesamt eine blonde Perücke. "Lichtgestalten" wie die Küsterin bekommen einen schwarzen „Bademantel“ übergeworfen und auch die Alte Burya, möglicherweise Geldwäscherin, trägt als zwielichtige Kreatur natürlich einen dunklen Pelz und eine Sonnenbrille. Ihr Auftritt von links ist übrigens das erste, was der Zuschauer von der Oper sieht. Steva, das Kontrastprogramm zum langweiligen Jeans- und- Herrenpullover –mit- Reißverschluss-Laca, toppt sein Rebellenoutfit aus Karohemd und Zuhälterhut mit Creepers. Passender wären da vielleicht alte Chucks, Vans oder so etwas gewesen, um den Rebell nicht etwas zu bemüht von Seiten des Kostüms aussehen zu lassen. So etwas ist dem "typischen" Opernbesucher sicherlich egal, mir aber nicht.
Was wir hier sehen sind die Leiden einfacher Leute, extrem realistisch dargestellt. So eine Art naturalistisches Theater des späten 20./frühen 21. Jahrhunderts. Die Geschichte wird chronologisch und ohne Striche erzählt. Eine gute Inszenierung stellt ja bekanntlich Fragen. Und das tut Jenufa auch ohne surrealistische oder sonstige Inszenierungsexperimente.
Einiges dagegen ist absolut klar: Die Tische die immer wieder als Betten herhalten müssen und die Wäschestücke und Lumpen dementsprechend als Bettdecken. Oder die Pappkiste als Bett für das ungewollte Kind. Auch als der angeheiterte Stewa über Jenufa herfallen will, wird von der grölenden Partymeute ein Tisch herangeschafft. Eine der wenigen konkreten Requisiten ist ein Kühlschrank, in dem sich neben Wasser möglicherweise nur noch etwas Alkohol befindet. Und als Stewa zusammenbricht, legt er sich zwar nicht auf einen Tisch, aber auf eine der Waschmaschinen. Dies alles führt zur Thematik der Armut und Perspektivlosigkeit hin.
Was es aber auch nicht zu geben scheint ist echte Liebe.
Das Liebesdreieck Jenufa-Stewa-Laca bestimmt die Geschichte. Die Beziehung zwischen Alkoholiker und Schönling Steva und Jenufa ist eigentlich eine ungesunde Missbrauchsbeziehung und so eine, vor der die Küsterin ihre Ziehtochter warnt, damit sie nicht den gleichen Fehler begeht wie sie einst. Sie rät zu Laca, dem „Mann mit der Bohrmaschine“. Leider ist es schon zu spät, denn Jenufa ist bereits schwanger- von Stewa. Der müsste sie deshalb heiraten. Laca ist natürlich eifersüchtig auf Stewa und obwohl er Jenufa liebt, zerfetzt er ihre Wange weil er sich damit erhofft, dass Stewa sie so entstellt nicht mehr will. Der Plan geht auf und Jenufa und ihr Neugeborenes leben bei der Küsterin im Keller und in Schande. Als Stewa sein Kind noch nicht einmal ansehen will und auch Jenufa nicht heiraten will, muss die Küsterin handeln. Laca will – natürlich – Jenufa nach wie vor, aber das Kind müsste weg. Die Küsterin ringt mit sich und mittlerweile fast dem Wahnsinn nahe, will sie die Entscheidung darüber, das Kind zu töten, Gott überlassen. Nachdem das Kind erfroren und weggeschafft ist, wird die Hochzeit Jenufas mit Laca gefeiert. Stewa hat sich mittlweile mit Karolka, der Richterstochter verheiratet und alle tun normal und glücklich. Jenufa steht abseits auf der Pasarella. Es wird über sie gelästert. Als dann aber ein Junge aus dem Dorf das tote Baby hochhält, kommt alles ans Licht, die Küsterin dreht endgültig durch und stirbt auf dem Wäscheberg und Karolka wendet sich von Stewa ab. Laca und Jenufa hingegen finden nach all dem Kummer und Stress zusammen.
Jenufa ist ein Opfer ihrer Verhältnisse. Jeder Akt nimmt eine Art traurigen und hoffnungslosen "Tagebuchspruch" Jenufas vorweg. Eigentlich ist sie klug, hat dem Hirtenjungen Jano sogar Lesen und Schreiben beigebracht. Trotzdem hängt sie im Waschsalon. Ihre einzige Chance auf besser oder zumindest nicht schlechtere Lebensverhältnisse ist eine Vernunftheirat mit Laca. Ihr Herz schlägt aber für Tunichtgut Stewa. Diese Liebe tut ihr jedoch nicht gut. Doch auch der vernüftige Laca, der sie angeblich liebt, scheut nicht davor zurück, sie aus Eifersucht zu verletzten. Nachdem das Schicksal ihr noch übler mitspielt, Entscheidungen für sie und über sie hinweg getroffen werden, fügt sie sich und heiratet Laca, geläutert und als das kleinste aller Übel, jetzt nachdem sie Stewa und ihr Kind verloren hat. Die Geschichte scheint oberflächlich gut ausgegangen zu sein und das realistischste „Happy End“ wurde erreicht. Die Musik sagt zwar etwas anderes. Dass es viellicht ein gutes Ende nahm, aber nicht zwingende ein glückliches. Mehr darf sich jemand wie Jenufa ja auch nicht vom Schicksal wünschen. Ihr trauriges Leben endet jetzt immerhin nicht mehr einsam.
- Warum befindet die Figur des Hirtenjungen Jano (gespielt als Frau von LinLin Fan) stets im Hintergrund? Nirgends nimmt sie teil, immer steht sie hinten.
- Warum wurde dieses Milieu gewählt? Jedes andere neuzeitliche prekäre Milieu hätte es auch getan?
- Stehen die Tische als Betten für die Armut?
- Ist Jenufa tatsächlich Opfer ihrer Verhältnisse oder der Liebe? Welche Entscheidungen hätte sie treffen können?
- Warum steht jeder Akt unter einem Motto (Jenufas Tagebuch?)?
Besuchte Aufführung: 24. April 2018
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