Kritik "I am Providence" Staatstheater Kassel

visuelle Hörspiel-Kurzgeschichte


  Konterfei H.P. Lovecraft  ©pixabay/open clipart-vectors
Konterfei H.P. Lovecraft ©pixabay/open clipart-vectors

Horror, zumindest als Filmgenre, hat es eher schwer, den Gesetzen der Theaterbühne gerecht zu werden ohne dabei seine Wirkung beim Zuschauer einzubüßen, wenn nicht gar vollends zu verlieren. Zu sehr sind unsere Sehgewohnheiten mittlerweile geprägt von Elementen des modernen Horrorfilms wie dem manchmal fast zu inflationär eingesetzten Jumpscare. Bleibt auf den ersten Blick also nur der Weg, Angst und Schrecken über eine insgesamt grausig-beklemmende, sich langsam aufbauende und verdichtende „Gruselatmosphäre“ zu erzeugen. Außerdem haben sich meines Wissens nach bisher erst wenige daran versucht, Horror und Theater eine Verbindung miteinander eingehen zu lassen, lebt das Theater doch eher von der Psychologie und dem Narrativ als dem visuellen Effekt, abgesehen davon, dass die Übertragung eines Inhalts vom einem Medium (Film) auf das andere (Bühne) grundsätzlich eine ganz eigene Herausforderung darstellt. Warum dies möglicherweise so ist, versuche ich in meinem Essay näher zu erläutern. Einer der Regisseure, der sich neben Jakop Ahlbom, der vor einigen Jahren mit seiner schlicht „Horror“ betitelten Theaterproduktion eine Genre-Hommage mit vielen Filmanspielungen geschaffen hat, und auf die im oben benannten Essay detaillierter eingegangen wird, mit diesem „Problem“ auseinandergesetzt hat,  ist der junge Emdener Wilke Weermann, der mit seiner Stückentwicklung „I am Providence“, die auf Motiven aus dem Oeuvre des amerikanischen Schriftstellers H.P. Lovecraft basiert, ein Werk geschaffen hat,  bei der er die Gesetze des Filmgenres gut umschifft, denn seine Wurzeln hat der Horror schließlich noch in der Literatur, wo beklemmende Atmosphären mit der Fantasie des Leser auf und wieder abgebaut werden, das Wort quasi nur der Katalysator für die eigenen Schrecken ist, die vor dem inneren Auge entstehen.

 

Eine Hommage an Lovecraft, den bedeutendsten Autor phantastischer Horrorliteratur des 20. Jahrhunderts allerdings schafft mit „I am Providence“, das in der Spielzeit 2019/20 seine Uraufführung im tif, der Studiobühne des Staatstheaters Kassel hatte, Weermann allemal und setzt dem „Vater des cosmic horror“ nicht nur ein Theaterdenkmal, sondern zeigt mit seiner Inszenierung auch eine mögliche Adaption des Horrorgenres auf die Bühne auf. Ob ihm dies durchgehend gelingt und ob es sich dabei dann auch tatsächlich um Horror (mitsamt seiner beabsichtigten Wirkung) handelt, ist eine andere Frage.

 


Inszenierung

Symbolbild   ©pixabay/waldkunst
Symbolbild ©pixabay/waldkunst

Eine Art Rohrrauschen (Musik/Sounddesign: Constantin John) in der Dunkelheit begrüßt die Zuschauer, die die Stuhlreihen vor der Bühne an diesem Abend bei weitem nicht voll besetzen. Die letzten reden noch bis ein paar „psts“ ertönen, die vermuten lassen, dass die Vorstellung eventuell angefangen haben könnte. Nebel, Grasbüschel und eine Art Fensterwand zeichnen sich plötzlich ab. Es wird klar, dass sich mitten auf der Bühne ein Haus befindet, in dessen Inneres man immer besser sehen kann, je heller das Licht wird. Mehr und mehr Details werden sichtbar, enthüllen sich langsam, kriechen aus der Dunkelheit in ein Licht, das entfernt an TV-Flimmern erinnert: Die flackernden Lampen beispielsweise, die altmodische Tapete oder die roten Pilze, die auf Wänden und Boden wachsen.

 

Vier der sechs Personen des Stücks, deren Namen allesamt lose angelehnt sind an Figuren aus dem Lovecraft-Universum, werden sichtbar, als sie ans Fenster rechts gehen, am dem ein Mann in einem gelben Sicherheits-oder Raumanzug steht und hineinschaut. Sie sind als eine Art Familie erkennbar. Die Figur der „Mutter“, Erika von Zahnn, gespielt von der Mezzosopranistin Lona Culmer-Schellbach aus dem Opernensemble des Theaters, macht das Grammophon an und fängt an zu singen. Eine Art Erzähler aus dem Off liest eine Geschichte, es wird heller im Raum. Überhaupt werden durchgängig mit Unterbrechungen Passagen aus den Kurzgeschichten Lovecrafts gelesen oder solche die an sie erinnern. Bisher wurde noch von keinem Darsteller ein Wort gesprochen. Dafür hört man Möwenschreie, während die Bewohner des Hauses auf und ab gehen. Wenig später sitzen sie alle auf dem Sofa und lachen in regelmäßigen Abständen ein Sitcom-Lachen zu einem TV-Programm, bevor sie wieder ans Fenster gehen und lauschend im Schatten stehen (Jetzt spricht die Off-Stimme von „Aufnahmen aus dem Marianengraben“, der tiefsten Stelle im Meer; eine von vielen Referenzen, die im Laufe der Stückentwicklung in den Ablauf eingewoben und zitiert werden).

Kurz darauf setzen sich die vier Hausbewohner Party-Hütchen auf und lassen sich zum Kaffeekränzchen am Tisch nieder. Während eine der Figuren – Tochter (?) Theodora (Alexandra Lukas)-  sich verschluckt, erklingt das Akte-X-Thema und die betroffene Figur öffnet kurz die Tür um für einen Moment den Glaskasten zu verlassen, das einzige Mal während des gesamten Stückes. Jetzt sieht man den Sprecher, er steht mit einem Mikrofon in der Hand außen vor dem Fenster und beschreibt Haus und Familie. Auch er trägt einen solchen gelben Anzug wie der andere Mann, der sich inzwischen bereits Zugang zum Haus verschafft hat. Diese beiden Rollen mit den Namen Dr. E. Whipple ( Tim Czerwonatis)  und Dr. Elihu W. (Marius Bistritzky) sind nicht nur äußerlich praktisch identisch, sondern lassen auch aufgrund ihrer Namensgebung eine Identität vermuten, denn der draußen Stehende sieht sich quasi selbst zu wie er drinnen steht und kommentiert sich obendrein, womit das erste Mal seit einer halben Stunden gesprochen wird, in Form einer Art Vierte-Wand-Bruch, möglicherweise sogar mikrofoniert. Der eine Dr. lässt dann den anderen durch den Kleiderschrank auf der linken Seite hinein ins Haus, wobei der Effekt entsteht, dass, wenn einer rechts durch die Tür rausgeht, der andere links wieder durch den Schrank reinkommt. Wenn beide im Raum sind, nehmen sie sich aber wahr und spiegeln sich sogar. Die Familie lacht sie dabei aus, erst vom Sofa aus, bevor sie sich den Forschern nähern, von denen einer in ein Diktiergerät spricht, während der andere in ein Notizbuch schreibt, was er gerade erlebt und vor sich hin sagt.

„Ich werde dieses bedrückende Gefühl nicht los, beobachtet zu werden“ sagt einer der Forscher oder die Off-Stimme während die beiden Tee angeboten bekommen und bevor sie – sozusagen nach dem „Feindkontakt“ -  das Haus verlassen und wieder von draußen ins Fenster hineinschauen. Aussagen wie „ein Ödland wo alles modert und stirbt“ und „versteckte Ungeheuer“ beschreiben eine Atmosphäre typisch für die Geschichten Lovecrafts und passend zu Bühne und zur Inszenierung. Plötzlich ertönt ein Schrei, der aber nur gedämpft erklingt, so als würde man durch Milchglas schauen. Ein paar Zuschauer gehen bereits. Sie verpassen deshalb eine weitere Referenz von außerhalb des Lovecraft-Universums: Das Purcell-Lied „What a sad face“ von 1698 aus der Liedersammlung „Orpheus Britannicus“, interpretiert wieder von Cullmer-Schellbach, der einzigen Sprech – bzw. Singrolle des Stückes. Es wird dunkel, ganz dunkel, und man sieht die Figuren bzw. deren Schemen sich winden und wieder ertönt dieses diffuse „Bohrinselrauschen“. Hände entfernen hinten das Gitterfenster über dem Kühlschrank und einer der Forscher klettert herein, dazu erklingt das Sitcom-Lachen. „Der Mensch ist dem Korallenpolypen ähnlich“ ertönt es aus dem Off und es wird nebliger. Beide Forscher tragen wieder ihre Quarantäne-Anzüge und rücken den Schrank ab, wodurch sich ein gewaltiger Nebelschwall ins Haus ergießt. Durch diesen neuen Eingang gehen nun alle ab, verzerrte Stimmen erklingen und ein düsteres trübes Licht leuchtet. „Die stärkste Angst ist die Angst vor dem Unbekannten“, ertönt es aus dem Off, während die Auftretenden gehen als wären sie unter Wasser, während sie dies auch beschreiben. Hinten gehen jetzt seltsame kapuzentragende Fischwesen lang. Die nun entstandene Welt wird wieder durch einen Erzähltext beschrieben. Dann leuchtet wieder das „Hauslicht“ und man sieht, dass die Familie, die während des gesamten Stückes in eine Art spießige 50er Jahre-Mode gekleidet war (Bühne/Kostüme: Johanna Stenzel) nun seltsame Fantasie-Gewänder trägt. Einer schreibt einen Brief, ein anderer isst etwas, das wie eine Rocher-Praline aussieht.

Der geschriebene Brief wird dann am Ende auch vorgelesen. Darin richtet „Opa Cthulu“ ein paar Worte an seinen Enkel. Dann wird ein dreistimmiger Gesang angestimmt, der unterbrochen wird. Ein Licht leuchtet im Fenster und der letzte Text vom Band ertönt. Hinten geht jetzt das Licht schnell an und aus, so schnell, dass es theoretisch epileptische Anfälle verursachen könnte. Das letzte Bild der Inszenierung beinhaltet, dass einer einen anderen auf einer Schubkarre von rechts nach links schiebt. Man erkennt die Figuren kaum durch dieses extreme Lichtflackern, nur dass ihre Umrisse so etwas wie einen Fischschwanz beinhalten. Nach einer kurzen Applausrunde ist das Stück, das an manchen Stellen recht viele Lacher erzeugte, nach einer Stunde und 20 Minuten vorbei.


Fazit

Symbolbild ©pixabay/waldkunst
Symbolbild ©pixabay/waldkunst

„ I am Provicence“ – das ist auch die Grabinschrift Lovecrafts und zeigt auf welche Art Lovecraft verwachsen war mit diesem kleinen Ort in Neuengland und wie die Geographie und Geschichte dieser Gegend ihn und sein Werk inspirierten wie es davor bei Poe geschah und Jahrzehnte danach bei Stephen King ebenfalls der Fall sein sollte. Doch Lovecrafts Horror ist ein anderer als der Kings, ein Subtilerer, mythologisch untermauert vom selbsterschaffenen Ctulhu-Mythos, metaphysisch und philosophisch komplex, der innerhalb des Lovecraft’schen Narrativ behandelt wird, und auch außerhalb, als wäre er nicht zwingend fiktiv. In Lovecrafts Geschichten ist es dann auch immer ein Außensehender, der detailliert und nüchtern beschreibt, was er sieht, aus einer dekadenten aber faszinierten Distanz heraus. Beim Leser hinterlässt das Ganze Fragen und eine ungemütliche Atmosphäre die fesselt.

Regisseur Wilke baut eine mit Sprach- und Erzählfetzen angereicherte fast durchchoreografierte Stückcollage bestehend aus Motiven aus dem Lovecraft-Universum und Referenzen von Außerhalb zusammen, mit der er die Form der Kurzgeschichte bzw. der Erzählung  auf die Bühne überträgt. Seine Geschichte handelt von einer seltsam maritim aussehenden Familie, die  offensichtlich schon so sehr mit dem düster-unheimlich Haus an der Küste, an der sie leben verwachsen sind und das sie nicht verlassen, dass es nicht verwunderlich ist, dass sie am Ende die Weiterentwicklung Richtung Meeresbewohner vollziehen.

Blaugesichtig und in spießigen 50er Jahre-Klamotten werden sie von den beiden Forschern entdeckt, die genau wie die Ich-Erzähler der Geschichten Lovecrafts endringen in die Welt, die sie daraufhin beschreiben und dann teilweise selbst in diese eintauchen – hier im wahrsten Sinne des Wortes.

 Das Wahren dieser Erzählstruktur allerdings geht zu Lasten der Spannung. Man wartet praktisch ewig , dass es „anläuft“- das erste Wort wird nach fast einer halben Stunde gesprochen – und das von einer Off-Stimme ( Artur Spannagel). Deshalb ist diese Stückentwicklung auch eher eine Art visuelles Hörspiel als ein dramatisches Stück im eigentlichen Sinne. Selbstverständlich ist die Szenerie eindrucksvoll: düster, neblig und stimmungsvoll ausgeleuchtet, wobei sicher sämtliche Register der tif-Technik gezogen wurden. Die Atmosphäre ist da, aber was praktisch von Anfang an fehlt und sich auch zu keinem Zeitpunkt richtig aufbauen kann, ist Spannung. Man wartet regelrecht darauf, dass „etwas passiert“ bei all den zwar extrem kleinteilig choreografierten Bewegungsmuster der stummen blau-gesichtigen Mensch/Fisch-Hybriden, durch ihre immer wiederkehrenden Muster aber auch langatmig anmutenden fast ritualartigen Verhaltensweisen.

 Zwar gespickt mit Zitaten von Außerhalb des Lovecraft-Universums und gut konstruierten Hinweisen auf Figuren oder Narrative des Werkes des Autors, wird aber bis zuletzt keine wirkliche Gruselstimmung aufgebaut. Der Effekt am Ende geht zwar in die „richtige“ Richtung und macht durchaus Eindruck, als eine Adaption des Horrorgenres inklusive Effekte auf die Theaterbühne aber kann man „I am Providence“ trotz seiner gelungenen Atmosphäre nicht bezeichnen. Dennoch: den Geist Lovecrafts spürt man im Stück durchaus und Wilkes Inszenierung hat ihn würdig und gut durchdacht visualisiert in Form einer visuellen Kurzgeschichte, wie Lovecraft sie durchaus auch hätte schreiben können.


besuchte Aufführung : 12.01.2020


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