Wabernder Techno beschallt die Bühne des tif, die mit grauen polygonartigen Plastikfelsen bestückt ist, vor denen Topfpflanzen stehen. Schauspieler Marius Bistritzky, der in der Kasseler Inszenierung des Jungen Staatstheaters „Die Leiden des jungen Werther“ die Titelrolle spielt, kommt hervor und begrüßt das Publikum – zu dieser Tageszeit hauptsächlich aus Schülern bestehend – mit „Wie froh ich bin, dass ich weg bin“. Der junge Werther ist gerade von zuhause ausgezogen und in seiner „Sturm- und- Drang-Phase“ (die ja nach dieser Strömung der Literatur, die den Briefroman hervorbrachte und der als ihr Schlüsselwerk gilt, benannt wurde): Ein sensibler, emotionaler, junger Mensch, der seinen Platz in der Welt sucht, genauso wie Liebe, Anerkennung und dergleichen. Dabei hat er natürlich seine festen Vorstellungen, weiß, was ihm missfällt und was nicht, besonders bei anderen. Das macht ihn zu einem Außenseiter.
Regisseur Janis Knorr und die beiden Dramaturgen Thomas Hof und Petra Schiller haben aus dem Briefroman nicht nur ein kompaktes einstündiges Bühnenstück gemacht, sondern auch eine abstrakte futuristische Gegenwart (Bühne und Kostüme: Ariella Karatolou) geschaffen, in der Außenseiter Werther aneckt, auf der Bühne ebenso wie im bürgerlichen Umfeld des Romans. So ist er wütend über den „Lifestyle der Illusion“; das Posten im Internet ist ihm besonderer Dorn im Auge. Er hält es bewusst analog, indem er seinen Unmut durch neongelbes Gekritzel an die Steine kundtut. Emotional genervt verhöhnt er die „Liebe“ und schreibt, während eine Stimme vom Band aus den Briefen oder Tagebucheinträgen Werthers vorliest, „ich“ an einen Stein. Der Grund dafür erscheint hinter einem der Steine im Dunkel und schreibt „Lotte“ auf das Klavier, das sich ebenfalls auf der rechten Seite der Bühne befindet. Parallel dazu liest eine Frauenstimme vom Band aus den Briefen von Lotte vor, die von Michaela Klamminger dargestellt wird.
Werther hat es erwischt. Er setzt sich ans Klavier und spielt die ersten Takte von Britney Spears’ „Everytime“ an, hört dann aber abrupt auf („Hört kein Mensch mehr“). Werther erzählt von Lotte, begeistert, scheint seine Gefühle aber vor allen rechtfertigen zu müssen (vor dem Publikum in dem Fall, das er wieder und wieder anspricht). Er wirkt verunsichert, stimmt das Lied nocheinmal mit mehr Inbrunst an, seine Stimme verliert sich in einem Kratzen. Dann erscheint Lotte und sie stehen nebeneinander. Lotte passt in diese discoartige Neonfantasiewelt, bekleidet mit mintfarbener Trägerhose, blauem Crop Top und einem blonden Pagenkopf mit Außenwelle. Es wird deutlich, dass Werther, der in dieser Inszenierung ein safranfarbenes Hemd, eine schwarze Hose und braune Schnürstiefel trägt anstatt seiner „Werther-Mode“, bestehend aus blauem Frack mit Messing-Knöpfen, gelber Weste, braunen Stulpenstiefeln und rundem Filzhut trägt, mit seinem so ganz anderen Farbcode nicht in diese Welt passt. Werther hat eine klare Vorstellung von der Welt: „Was ist unsere Welt ohne Liebe. Eine Zauberlaterne ohne Licht.“ Könnte das neontürkise an die Wand projizierte Polygon dafür stehen? Was nun folgt, ist eine übertriebene Referenz auf den Film Titanic inklusive „My heart will go on“, gewollt oder ungewollt komisch: Werther inzeniert Lotte auf dem vordersten Stein, beginnt damit, sie mit pinker Sprühfarbe und gelbem Schleim zu porträtieren, bevor er sich mit ihr an den „Bug“, einen hochkant gestellten Stein, stellt. Die skurrile Titanic-Szene gipfelt in einem Medley aller relevanten Zitate des Films („Eisberg voraus, komm zurück, rette mich ... ), bevor Lotte sich aufs Klavier setzt und – fast postkoital – raucht. In dieser intimen Szene philosophieren sie miteinander, teilen sich die Zigarette und küssen sich fast als Lotte Werther ihr Herz ausschüttet. Genau in diesem Moment tönt es von hinten „Lotte“, ein Fels sprengt und hahinter sitzt Albert, Lottes Verlobter, auf einer Hollywood-Schaukel, Lotte eilt zu ihm und Werther wurde soeben in die "Friendzone" abgeschoben. Als poppiger 50er Jahre Typ mit roter Tolle ist der besonnene Traditionalist nicht nur äußerlich Gegenfigur zum gefühlvollen stürmischen Werther. Nachdem Lotte Albert und Werther einander vorgestellt hat, schauen sie zusammen fern, Werther eingequetscht zwischen beiden fühlt sich sichtlich unwohl, besonders als sie über ihn Händchen halten. Teil einer unglücklichen Dreiecks-Beziehung, der er geworden ist, macht er einfach mit, bis der Ausruf „Heute ist mein Geburtstag“ ihn rettet und die nächste Szene einleitet.
Neben Musik (Musikalische Leitung: Thorsten Drücker) und Partyspielen gibt es auf Werthers Geburtstagsfeier auch noch die Geburtstagsrede von Lotte („Eines Tages Baby, werden wir alt sein...“, ein Poetry-Slam-Text von Julia Engelmann, die die „Kloppstock“-Stelle im Roman widerspiegeln müsste, die auf die Seelenverwandtschaft Lottes und Werthers hindeutet. Sein Geschenk, eine nicht geladene Pistole, probiert er gleich aus. Suizid ist Werthers Thema. Auch als Lotte und Albert bereits den Geburtstagskuchen essen, redet er weiter. Er redet sich in Rage, will gehört werden. Als Lotte und Albert miteinander zu flüstern beginnen, wendet er sich schließlich ab und erneut dem Publikum zu. „Wir sehen glückliche Menschen, die wir nicht glücklich machen und das ist unerträglich.“ Werther entscheidet sich für das Exil und im Falle der Inszenierung für das Publikum, in deren Reihen er sich nun mischt. Freundliche Worte hat er aber nicht für sie: Lästern und abfällige Bemerkungen darüber, dass nur das Bankkonto zähle, bestimmen seine Reden, denn im Buch befindet er sich bei Adeligen, die seinen bürgerlichen Status nicht akzeptieren. Aber hier kann er auch offen sein, denn Lotte und Albert hören ihn hier nicht. Die bauen währenddessen die Bühne um, stellen alle Pflanzen in der Mitte zusammen. Werther äußert seine Abscheu für Albert, ("Warum er?"), denn immerhin gefällt Lotte ihm nur, fragt er sich und mit modernen Worten, die ihm in dieser Fassung in den Mund gelegt wurden, stellt er fest: „Ja, meine Fresse, ich leide viel.“ Überallhin verfolgt ihn Lotte. Ein Mädchen holt er aus dem Publikum heraus, ein Verweis auf die Stelle mit dem Fauxpas mit dem Fräulein von B. und führt sie vor: „Sie gleicht dir, Lotte.“ Und wieder macht Albert Werther alles zunichte: Er macht Lotte einen gesungenen Heiratsantrag, in dieser Inszenierung rockstarmäßig in Pose mit E-Gitarre , gegen den Werther im Publikum verzweifelt versucht anzusingen. Lotte macht Fotos von sich mit der Polaroid, geht ins Publikum und gibt Werther das Bild.
Werthers bittere Erkenntnis leitet die letzte Szene ein: „Ich habe den zweiten Platz in ihrem Herzen.“ Umringt von Schwarzlicht und Neonfarben unternimmt Werther einen letzten verzweifelten Versuch und singt voller Inbrunst „Everytime“ (das Pendant dieser Inszenierung zu dem Vorlesen der Ossian-Gesänge des Romans). Lotte erträgt es nicht und befielt: „Hör auf!“. Das ist die Beziehung der beiden. „Schämt euch, ihr Nüchternen“, beschwert sich nochmal Werther. Dann tritt Schauspielerin Klamminger aus ihrer Rolle und erläutert Lottes Position in der dritten Person (Sie will ihn eigentlich auch). Es ist ein Dilemma für alle, denn als Lotte und Werther sich küssen, sieht Albert es. Nach Lottes letztem Versuch, einer versöhnlichen Einladung, lehnt Werther ab. Sie nie wieder zu sehen ist ihm erträglicher als ein gefriendzonedes Dasein als zweite Wahl zu fristen (Auch möchte er ja ihre Ehre und Ehe nicht gefährden). Doch erträglich ist gar nichts mehr, denn Werther hat nach dem letzten Lebewohl einen Entschluss gefasst („Ich gehe voran“). Nach dem bedeutungsschweren Satz „Es gibt Erfahrungen, die man nicht überleben kann“, stellt er sich auf den Stuhl, das Titanic-Lied ertönt und somit die Erinnerung an all das Schöne, das er mit Lotte erlebt hat, und es wird für immer dunkel für Werther. Der Schuss ertönt als Mauerschau.
Auf eine Stunde komprimiert mit einer Struktur, die die Schlüsselmomente von Goethes Briefroman aus dem 18. Jahrhunderts mit drei Figuren szenisch umsetzt, erzählt die Bühnenfassung des Jungen Staatstheaters die Geschichte unterhaltsam wie gut verständlich. Für charakteristische zitierte Werke wurden zeitgemäße Pendants gefunden und das Fortgehen Werthers wurde durch die zusätzliche Interaktion mit dem Publikum umgesetzt, was natürlich trotz aller Nähe ein Monolog blieb. Die visuelle Umsetzung schafft farblich und gestalterisch einen sichtbaren Konflikt zwischen dem Außenseiter Werther und der Welt in der er lebt, und in der er wirkt wie ein Außenseiter und mit Emotion (und warmen Farben) versucht leidend gegen die Nüchternheit der bürgerlichen (oder der neonfarbenen eckigen polygonen) Welt anzukämfen. Ein Kampf den er verliert. Die Inszenierung erspart ihm wenigstens das Leiden auf dem Krankenbett.
Die Leiden des jungen Werther
nach Johann Wolfgang Goethe
Wiederaufnahme am Staatstheater Kassel Spielzeit 2018/19
besuchte Aufführung: 5. April 2019
letztmalig in dieser Spielzeit : 14.06.2019
Spielort: tif.
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