Molieres „Der Menschenfeind“ aus dem Jahr 1666 handelt vom „schwarzen Grobian“ Alceste, der als erklärter Idealist und eben Menschenfeind nicht nur den Anspruch für sich erhebt, ohne Heuchelei zu leben, sondern auch noch seine Unabhängigkeit gegenüber dem königlichen Hof zelebriert und das trotz adeliger Abstammung.
Ein eigensinniger Rebell, der sich einen Dreck um die Konventionen seiner Zeit und die Regeln seines sozialen Umfeldes schert ist ein an sich zeitloses Konzept und so erfreut sich neben zahlreichen Bearbeitungen, Übersetzungen, Interpretationen und Nachdichtungen vor allem eine Neufassung großer Beliebtheit, die die Handlung in die Schickeriagesellschaft der Bonner Republik verlegt (Hans Magnus Enzensberger 1979).
Auch Botho Strauß und Jürgen Gosch mit Wolfgang Wiens fertigten Neuübersetzungen an. Demnach ist die Idee, die Handlung von „Der Menschenfeind“ weg vom höfischen Leben in Adelskreisen hin in ein mögliches Pandant für Dekadenz in den gehobenen Kreisen unserer Zeit zu verlegen nicht neu. Auch das Theater Chaosium aus Kassel hat sich dazu entschieden, eine eigene ca. einstündige Fassung der französischen Komödie zu inszenieren, „frei nach Molière“ und erarbeitet von Reinhild Alber und Dirk Radunz, die bei ihrer Premiere gut angenommen wurde.
Und da sind sie auch schon, die Stehtische, an denen die Gäste einer juppie'esk anmutenden Party in teilweise ebenso juppie'esk anmutenden Kostümen grüne, blaue oder orangene Partydrinks zu sich nehmen. Drei davon sitzen als Schemen bereits auf der dunklen Bühne, während das Publikum die Halle des Dock 4 betritt. Während eine Frau im blauem Sakko, das an eine Jeansjacke erinnert, von hinten auf die Bühne tritt, trinken bereits zwei andere, ebenfalls in blauen Sakkos am Tisch gemeinsam mit zwei Frauen und einem anderen Mann, während drei mürrisch dreinblickende Gestalten (zwei weiblich, einer männlich) in schwarzen Mänteln mit vor der Brust verschränkten Armen auf einem beige Sofa mitten auf der Bühne sitzen und mürrisch dreinblicken.
Schnell wird eine der Besonderheiten dieser Inszenierung klar: Drei der Figuren (Celimene, Alceste und Philinte) sind jeweils mit drei Spielern besetzt, die die Verse der jeweiligen Figur unter sich aufteilen und bis auf Celimene, die immer im Dreierpack auftritt, auch in unterschiedlichen Konstellationen miteinander agieren und die auch in etwas abgewandelter Form dasselbe Kostüm tragen. Auch darstellerisch gibt es Unterschiede, selbstverständlich, ebenso bei der Art und Weise wie die jeweiligen Spieler mit dem Text, der die Struktur der alten Sprache inklusive Versmaß und Reimen im großen und ganzen beibehalten hat, umgehen, ist von Spieler zu Spieler unterschiedlich. So werden im Einzelfall (insbesondere Gabi Leonhardt-Marin als Philinte) tatsächlich hin und wieder durchaus überzeugende Ergebnisse, auch sprachlich erzielt, was eine insgesamt gute theaterpädagogische und regietechnische Betreuung erkennen lässt.
Gleich zu Beginn punktet die Inszenierung, indem sie mit den in der Fassung enthaltenen modernen Referenzen, die von der „Hormonbehandlung in Lausanne“ bis hin zum Angeben mit dem Yacht oder der Pfändung durch das Finanzamt über das „Dinner im Kanzleramt“ reichen, für zuverlässige Lacher sorgt. Zwar wird die alte Sprache und die sich daraus ergebende Dialog-und Reimstruktur Molières beibehalten, die trotz Kürzungen und Modifizierungen erhalten bleibt, ebenso wie das grobe Handlungsgerüst der ursprünglichen fünf Akte, doch ebenso geschickt wie natürlich klingend wird darin die Frage nach einer Telefonnummer eingewebt. Auch das Gedicht, das Oronte, der im juppie’esken geben Sacko die Party beritt, vor versammlter Gesellschaft zum Besten gibt und für das Philinte ihn über den Klee lobt, steht in Punkto „Cringigkeit“ einem Erguss eines durchschnittlichen studentischen Poetryslams der 2010er in nichts nach. Alceste reagiert entsprechend darauf und sagt Oronte offen die Meinung („Wer wirklich dichten will, der läuft ein Risiko“). Auf „Subkultur und alte Unterhosen“ verweisend zückt Alceste ein braunes Heft und liest vor. Oronte kontert („Kein Mensch spricht heute noch in Reimen“) und der erste Verstoß gegen die Etikette geht auf das Konto des Menschenfeindes.
Die nächste Szene beginnt als Celimene mit musikalischer Untermalung im rotem Glitzerbolero hereinrauscht und mit auf den Tischen verteilten Knabbereien der Party den letzten Schliff verpasst, die Alceste gleich durch einen Hauen auf den Tisch, bei dem die Musik ausgeht, crasht, und Celime eine Szene macht, da nur einer der dreien, die anderen beiden stehen im Freeze, bis die Party durch die Auftritte von Arsinoe, Eliante und den Grafen (eigentlich Marquise) Acaste und Clitandre weitergeht und nun getanzt wird, zu einem modernen französischen Popsong; Alceste sitzt natürlich inzwischen wieder mürrisch auf dem Sofa. Es wird inzwischen geklatsch, getratscht und gelästert was das Zeug hält („Sie ist so geistreich wie ein Sack Zement“) bis Alceste in seiner Wut ein Kissen vom Sofa schmeißt. Celimene erkennt da, dass Alceste aus Prinzip dagegen ist. Der Darsteller des Oronte kommt als Polizist im braunen Mantel und führt Alceste ab. Die Party geht weiter und die beiden Grafen führen Konversation („Ich war sogar im Kanzleramt beim Dinner...ein Gewinner“), lästern über Arsinoe und lassen durchblicken, dass auch sie Interesse an Celimene, die eigentlich- trotz aller Verschiedenheit - Alcestes Zuneigung erwidert. Jetzt werden die Intrigen gespinnt. Derweil macht Oronte sich an Arsinoe ran, die beiden gehen ab und Philinte und Eliante treten auf, danach Alceste. Diese soll vermitteln, als Alceste und Celimene Streit haben: Der Brief an Oronte ist möglicherweise ein Missverständnis. Bosco, einer Dienerfigur, zusammengefügt aus den beiden Dienern du Bois und Basque der Originalfassung, nimmt Alceste mit, alle gegen ab und es wird dunkel auf der sonst recht hell beleuchteten Bühne.
Dann geht die Party weiter und Alceste gibt vollends zu verstehen, dass er die Menschheit hasst. Eine sehr moderne Art der Flucht vor der Gesellschaft, das Aussteigen, in dem Fall als Schafzüchter nach Island zu gehen, wird von ihm angesprochen. Nachdem Oronte nocheinmal versucht, Celimene davon zu überzeugen den „schwarzen Grobian“ „in die Wüste zu schicken“, klärt sich das Missverständnis in Anwesenheit aller versammelten Partygäste auf und die Celimentes sitzen auf der Sofa-Anklagebank. Alle sagen ihr nacheinander die Meinung und verlassen die Bühne.
Alcestes Versuch, sie davon zu überzeugen, zu ihm zu ziehenm schlägt fehl, er will aber auch nicht zu ihr und so bleibt Alceste allein, im Gegensatz zu Philinte und Eliante, die sich gefunden haben. Alceste aber gibt nicht auf und will den „nächsten Schritt wagen“(„Ich gebe mich noch lange nicht geschlagen.“). Auch hier bleibt das Ende offen.
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