Andrea Chenier Staatstheater Kassel Kritik

Mehr als nur eine Verismo-Schnulze


Symbolbild ©pixabay/invitro
Symbolbild ©pixabay/invitro

Andrea Chenier, ein musikalisches Historiendrama von Umberto Giordano aus dem Jahre 1896 handelt vom französischen Revolutionsdichter André Chenier, dessen Leben 1794 auf der Guillotine ein tragisches Ende fand. So oder so ähnlich erging es während der Revolution vielen. Ähnlich wie beim Katastrophenfilm setzt man aber auch hier auf das Einzelschicksal, um die Tränendrüse auch ja genug arbeiten zu lassen. So spinnen Giordano und sein Librettist Illica das Liebesdreieck um Chenier, Maddalena und Gerard, um aus dem Leben des historischen Cheniers ein verismotaugliches Rührstück zu machen, das 28.3.1896 im Teatro della Scala in Mailand seine Uraufführung hatte.

 

 

Zwischen dieser Uraufführung nun und der Inszenierung der Spielzeit 2017/18 des Staatstheaters Kassel liegen viele Jahrzehnte einer nicht gerade dichten Inszenierungsgeschichte Andrea Cheniers. Das Staatstheater Kassel, das öfters auf seltene Perlen der Operngeschichte und weniger auf das Kernrepertoire deutscher Opernbühnen setzt, startet die neue Opernsaison mit diesem Werk, das es von Regisseur Michael Schulz inszenieren lässt.


DIE INSZENIERUNG

 

Die Inszenierung selbst beginnt mit einer kleinen, an Stummfilm oder ein Kammerspiel erinnernden Szene, in der der Zuschauer erstmals die Figur Carlo Gerard kennenlernt – und das blaue Sofa, das sich fortan wie ein roter Faden durch das Stück ziehen wird.

 

Nach dieser Szene findet sich der Zuschauer bereits mitten auf dem Ball der Gräfin de Coigny, dem 1. Akt bzw. Bild der Oper, der ein verkitschtes Rokokoidyll zeigt, mit Kostümen, die bisweilen an Sahnebaisers (!) erinnern. Aus diesem Rahmen fallen Maddalena und Chenier, deren Kleidung schlichter ist.  In diesem Akt, in dem Chenier seine Werke, die den Adel kritisieren, vorträgt, was für Aufruhr sorgt, beginnt die Beziehung zwischen ihm und Maddalena und wird eifersüchtig von Gerard beobachtet bis dieser schließlich mit einigen Revolutionären ein Massaker auslöst, welches zeigt, das die Revolution unwideruflich ausgebrochen ist.

 

Nach diesem ersten Akt, der mit schönen Details wie echtem Eis oder einer sehr geckhaften Interpretaion des fremdländischen Cembalisten, der auf dem Ball sein Können zeigt, gespickt ist, wird dieses Bühnenbild nach und nach dekonstruiert, analog zu den Kostümen - und zwar wird es vor den Augen der Zuschauer dekonstruiert, demonstrativ nach dem ersten Akt, der einen großen Schnitt darstellt, denn die alte Gesellschaft ist unwiderruflich verloren, zerstört durch die Revolutionäre, die auf dem Ball ein Massaker anrichten. So tragen die Bühnenarbeiter, nachdem sie sichtbar die Bühne umgebaut haben, auch sichtbar die tote Gräfin ins Off, das Aufderbühne und das Hinterderbühne vermischen sich und machen Platz für eine neue, eine chaotische Zeit, eingeläutet durch die Marseillese, die währenddessen ertönt.

 

Akt für Akt wird die Bühne so dekonstruiert und reduziert. Am Ende des dritten Aktes sieht man, wie Maddalena praktisch aus der Bühne ausgesperrt wird und von außen gegen den eisernen Vorhang klopft, sich also außerhalb der vierten Wand befindet und wieder auf die Bühne möchte.

 

Parallel dazu machen die Kostüme eine ähnliche Entwicklung durch. Die Elemente in den anfänglichen verkitschten Rokokokostümen werden Akt für Akt moderner, bis sie am Ende, in der Gefängnisszene fast neutral und zeitlos sind, und so sogar im Hier und Jetzt zu finden sein könnten.

 

Insgesamt umfasst diese Ästhetik ebenso die Verwendung von Anachronismen wie Smartphones, Laptops und Tablets, die mit den modernen Elementen der Kostüme, die dezent an das Grand Guignol Theater erinnern, bisweilen auch Assoziationen mit Steampunk zulassen.

 

Alle diese Elemente und Andeutung bringen das Chaos der späteren Phasen der französischen Revolution in die Nähe von Dystopien und Endzeitstimmungen, wie wir sie aus Filmen kennen.

 

Weitere eindeutig moderne Adaptionen sind die Kindersoldaten, die wie moderne Kindersoldaten ausgestattet sind und das Dichten Cheniers im Gefängnis auf einem Laptop(!).

 

Solche Details wirken in diesem Zusammenhang erst ein wenig irritierend, fügen sich aber ganz gut in die allgemeine Ästhetik der Inszenierung ein.

 

 Das Ende soll schocken, keine Frage, es zeigt eine traumatisierte Maddalena, die den Kopf Cheniers serviert bekommt, bevor sie ihrer eigenen Hinrichtung entgegen treten muss. Das hat sie sich selbst so eingebrockt, als sie sich als verurteilte Delinquentin ausgibt, um in der Schlange der Todgeweihten weiter vor zu rücken um mit Chenier einen szenischen Liebestod zu sterben, damit sie wenigstens gemeinsam sterben können, wenn sie schon nicht gemeinsam leben dürfen. Den gewährt Regisseur Michael Schulz ihr aber nicht, was als schaurig angesehen werden mag, und jede Illusion nimmt, eben nicht allein sterben zu müssen. Um den reinen Schockeffekt aber wirklich auch beim letzten Zuschauer ankommen zu lassen, hätte man das Licht etwas später ausmachen müssen. So entscheidet sich die Inszenierung – gewollt oder ungewollt- aber eher für psychologischen Horror als für Gore. Auch nicht die schlechteste Lösung, weil das Medium Theater ja sowieso Dinge nicht so darstellen kann, wie es das Medium Film kann und umgekehrt.

 

 

DIE MUSIK

 

Giordanos Werk ist voller Pathos. Zwar mit Ausbrüchen, aber darin dennoch subtil und changierend.

 

Francesco Angelico, der neue GMD, arbeitet die Kontraste und Farben der Musik differenziert heraus, die durch die Inszenierung wunderbar widergespiegelt und szenisch spürbar gemacht werden.

 

Da wären große dramatische Tableaux im Stile der Grand Opera, aber auch viele musikalische Zitate aus Formen wie der Gavotte oder dem Schäferspiel, die mit zum Charakter der Musik beitragen.

 

Ein kleiner Wermutstropfen ist leider die zum Teil wenig ausbalancierte Dynamik, die dafür sorgt, dass das Orchester an einigen Stellen die Sänger zu sehr übertönt. Das liegt aber keinesfalls am stimmlich und stimmgewaltigen Traumpaar bestehend aus dem nicht nur versimotauglichen, sondern gar verismo-würdigen Tenor Rafael Rojas und Vida Miknaviciute, deren Sopran es stets locker mit dem lautesten Fortissimo des Orchesters aufnehmen kann, ohne dabei an Brillanz und Klarheit zu verlieren.

 

FAZIT

 

Insgesamt überzeugt die Inszenierung durch Kontraste und ihre Struktur bzw. Entwicklung. Es wurde eine gute Balance gefunden zwischen Eskapismus und Neuinszenierung.


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