Als ich mich im Rahmen meiner Corona-Extra-Reihe näher mit dem Vor-und Nachteilen von virtuellen Theaterformen beschäftigte, habe ich bei meinem Überblick der das Sprechtheater oder Hybridformen mit Performance-Charakter in den Fokus rückte zwei Sparten völlig außer Acht gelassen: Oper bzw. Musiktheater und (klassischen) Tanz bzw. Ballet.
Mit diesem weiteren "Corona-Extra" möchte ich, jetzt wo das Live-Theater-Ereignis wieder mehr und mehr stattfindet, dies - wenn auch etwas verspätet- nachholen.
Möglich macht die „Oper von Zuhause aus“ die Internetseite Operavision, eine Art Plattform, die liebevoll und gründlich strukturiert und präsentiert alles anzubieten scheint, was das Herz des Opernliebhabers des 21. Jahrhunderts höher schlagen lässt. Übersichtlich und nicht zu überladen aufgebaut sollte der Nutzer nach wenigen Klicks und kurzem Stöbern zum gewünschten Inhalt gelangen.
Neben einer Mediathek die mit Links zum eigenen Youtube-Kanal als eine Art „Operntube“ einen kostenlosen Streaming-Dienst mit ausschließlich
Musik (und in einzelnen Fällen auch Tanztheater-) Inzenierungen anbietet, verfügt operavision.eu auch über Sektionen wie einen „Feuilleton“ mit Rezensionen, Essays oder Diskursen, einem Bereich der das Projekt selbst und seine Ambitionen/Absichten vorstellt, einer Rubrik, die begleitendes musiktheaterpädagogisches Material anbietet und einer „Opernakademie“, die Infos für all diejenigen bieten will, die Oper zum Beruf machen wollen. Darüberhinaus ausgestattet mit
einem Netzwerk sämtlicher sozialer Medien und Verlinkungen zum eignen Aufritt auf selbigen und einem eigenen Podcast befindet sich die Plattform definitiv auf der Höhe zeitgemäßer
Opernrezeption und Präsentation und ist sich dessen auch selbst bewusst („Operavision ist Oper für die vernetzte Welt“)- und das auch noch in drei Sprachen (deutsch, englisch, französisch). Die
internationale bzw. europäische Ausrichtung der Seite ist da fast schon selbstverständlich, sind doch eine Auswahl der bekanntesten Opernhäuser Europas Partner und Content-Geber und auch das
Creative Europe Programm der Europäischen Union ist Co-Gründer des Projektes „Operavision“.
Die Mediathek, das Herzstück der Plattform, bietet seit 2016 auf dem eigenen YouTube -Kanal opernorientierten Content an, jedoch in der Anfangszeit ausschließlich Bonusmaterial
zu Inszenierungen sowie deren Trailer. Seitdem sich abzeichnete, dass durch die Corona-Politik weltweit an „normale“ Theaterbesuche lange Zeit nicht zu denken sein würde und Häuser auf ein
digitales Online-Angebot umschwenken mussten, um im Rennen und ihren Zuschauern in Erinnerung bleiben zu können, streamt Opera-Vision als eine Art Dachplattform Aufführungen verschiedener
Opernhäuser nicht mehr nur Ausschnittweise sondern in ganzer Länge und stellt sie „free, live and on demand“ eine bestimmte Zeit für jedermann mit Internet-Anschluss zur Verfügung. Die
ausgewählten Inszenierungen von 29 Partner-Häusern in 17 Ländern sind in der Regel Inszenierungen der letzten Jahre vor der Corona-Zeit und umfassen sowohl bekannte Klassiker des Repertoires als
auch seltene Perlen. Zudem bietet ein Archiv einen Überblick mit Informationen zu Inszenierungen, die nicht mehr länger geschaut werden können, aber in Form eines Rückblicks weiterhin ihren Platz
auf der Seite haben. Abgerundet werden die zur Verfügung gestellten Inszenierungen von Hinter -den- Kulissen-Videos, Einführungen, Interviews und Gesprächen mit Ausführenden und Weiterem,
bisweilen auch kurzweiligem Film-Material (beispielsweise „Opern-Karaoke“ oder Quizzen wie „Welcher berühmte Sopran-Charaker sind Sie“- (Ich bin übrigens Turandot…)).
Neben einem Konzert, einer Tanztheater-Inszenierung und einem
Bach-Oratorium sind es -derzeit- ausschließlich Opern und einige Operetten, die gestreamt werden.
So auch Bruno Ravellas Inszenierung von „Der Rosenkavalier“- Richard Strauss’ wohl berühmteste Oper, wie auch in der Beschreibung des Beitrags, die stets aus einem Abschnitt mit
Einführungstext und Eckdaten wie Besetzung, einem mit einer kurzen Inhaltsangabe und einem namens Einblicke mit zusätzlichen Informationen und Anekdoten zum Werk, gleich zu Anfangs drauf
hingewiesen wird.
So vorbereitet steht der Rezeption der Aufführung von der heimischen Couch aus (oder von wo aus auch immer) also theoretisch nichts mehr im Weg.
Es ist sowohl möglich, die Oper auf der Seite selbst anzuschauen, indem man das Titelbild des Beitrages anklickt als auch über einen Link direkt zu YouTube zu gelangen um das Video dort
anzuschauen und dort dann auch alle anderen Features der Streaming-Platform zu nutzen, wie beispielsweise den Kanal von operavision.eu zu abonnieren.
Nach einem Kamera-schwenk über den Open-Air-Spielort der Garsington-Opera in der Nähe der englischen Stadt Oxford, Publikum, Orchester und Bühnenbild folgt die Kamera dem kleinen Cupido (George
Nearn Stuart) der in der Ouvertüre auf dem Bühnenbild herumläuft bevor die Kamera verschnörkelte Details der Kulisse heran zoomt und vor dem damastenen Betthimmel der Schriftzug des Titels der
Oper erscheint. Nach diesem Muster wird der Übergang in den ebenfalls durch Schriftzug angekündigten ersten Akt vollzogen bevor wieder in die Totale gewechselt wird nur um kurz darauf für den
Auftritt des Octavian (Hanna Hipp) wieder heran zu zoomen. Sobald die Szene zwischen ihm und der Feldmarschallin (Miah Persson) beginnt, leisten die Untertitel-Funktion hervorragende Dienste,
denn diese verfügt im Gegensatz zu den Übertiteln eines Opernhauses über die Funktion, die Sprache auszuwählen- im diesem Fall stehen Deutsch, Englisch und Französisch zur Wahl - wie auf der
Seite operavisions.eu ingesamt.
In der Videobeschreibung mit noch ein wenig kuratorischem Wissen und unter dem Video den Kommentare ist es vielleicht nicht unbedingt leicht, sich gleich auf einen fast anderthalbstündigen ersten
Akt zu konzentrieren, je nachdem wieviele Fenster man am Computer noch offen hat oder wieviel man nebenbei noch macht und wie man ingesamt rezipiert, denn den Rahmen dafür muss sich der Zuschauer
selbst schaffen. Dabei macht es sicher einen gewaltigen Unterschied, ob man sich den Stream in einem dunklem Zimmer mit Leinwand oder Großbildfernseher gibt, oder auf dem Smartphone während man
auf der Toilette sitzt oder am Laptop nebenher online-Shopping betreibt. Auch das Klangerlebnis ist selbst mit der besten Technik nicht so zu leisten, wie es der Arbeit von Ensembles, Orchester
und - bei diesem konkreten Beispiel - dem jungen und international bereits renommierten Dirigenten Jordan de Souza Tribut zollen würde.
Da Oper aber ein audio-VISUELLES Erlebnis ist, ist es natürlich auch wichtig, letztere Komponente ebenso erfolgreich ins Digitale übertragen zu können, denn eine solche Form ist ein undankbarer
Bastard irgendwo zwischen Live und TV und erfordert ein Filmen, das die Atmosphäre einer Live-Aufführug zumindest versucht einzufangen, so gut es eben geht. Das Film-Team braucht demnach ein
Gefühl wie und wann und auf was man draufhält und gegebenenfalls dann die Schnitte setzt. Normalerweise entscheidet man im Theater selbst, wohin der Blick führt, hier, weil es eben keine
konstante Totale ist, schaut der Zuschauer mit dem Blick bzw. den Blicken des Film-Teams, was seine Wahrnehmung befangen lenkt, denn es gibt bei der Kamera-Führung Schnitte, es gibt
Portraitausschnitte, beinahe Close-Ups, verschiedene Winkel und stetiges Heran -und -wieder-weg-zoomen.
Ein Vorteil dieser Situation ist aber, das Gesichtsausdrücke besser wahrgenommen werden können und das ein oder andere liebevoll eingerichtete Requisit nun vielleicht die Beachtung bekommt, die
es sonst nur von den ganze vorn Sitzenden erfahren würde, befänden sich Ausführende und Rezipienten physisch im selben Raum zur selben Zeit. Auf lange Sicht wäre es nicht uninteressant, zu
beobachten, ob sich ein gesamter Inszenierungsprozess verändert, wenn man von vornherein weiß, dass er für einen Stream gefilmt wird.
Hübsch, aber nicht überladen
Die von Gary McCann eingerichtete Bühne ist aber ohnehin nicht überladen. In gemuteten Taupe zieren verschnörkelte Ornamente an Wänden und auf Möbeln eine Rokkokoesque Kulisse auf denen das
Personal des Rosenkavaliers eine Art Fantasy-50er-Kostüme in Pastellfarben umherträgt.
Erstes scheint eine beliebte Gestaltung vieler Operninszenierungen der letzten Jahre zu sein und Letzteres kann man durchaus machen- waren die 50er doch eine aus heutiger Sicht verhältnismäßig
ästhetisches Jahrzehnt, vielleicht das letztes im herkömmlich-reaktionären Sinne. In Kombination ergibt das eine definitiv nett anzuschauende Bühne ohne dabei kitschig zu sein, die nicht aufregt,
aber auch nicht langweilt und das ist nicht unbedingt das Schlechteste, dauert das Ganze doch immerhin gut dreieinhalb Stunden.
Man kann zwischen den Akten hin und her spulen, das zwar gegen die Regeln des Live-Erlebnisses verstößt, aber einem die Möglichkeit gibt, die eingefügten jeweils 5-minütigen Pausenintervalle, die
vor jeden Akt geschaltet sind und sich aus einem Landschaftsbild und Originalton mit Atmo zusammensetzen, zu überspringen.
Mit Puccinis Tosca hat operavision.eu „eine der beliebtesten und zeitlosesten Opern“ auf dem digitalen Spielplan, die als „Opernthriller eine
Erneuerung des italienischen Melodramas und des Verismo-Genres“ an sich darstellt.
Die spanische Produktion (Koproduktion Gran Teatre del Liceu (Barcelona) und Teatro de la Maestranza (Sevilla)), inszeniert von Paco Azorín und dirigiert von Nicola
Luisotti wurde 2021 aufgezeichnet.
Neben englischen, italienischen und spanischen Untertiteln sollen angeblich noch „zusätzlich automatische Übersetzungen in mehr als hundert andere Sprachen“ zur Verfügung stehen. Anfangs schwenkt
erst einmal die Kamera über die vollbesetzten historischen Logen des Teatro Real in Madrid während eine Bandansage auf spanisch und englisch die üblichen Hausregeln verkündet. Danach
schwenkt sie über das wartende und etwas gelangweilt dreinblickende Orchester, zumindest trifft das für die Bläser zu, die von der Maskenpflicht befreit sind und denen man ihre Befindlichkeit
deshalb auch ansehen kann. Dann ist es dunkel und rauscht. Die Oper, die während des Zweiten Koalitionskrieges gegen die erste Französische Republik Ende des 18. Jahrhunderts, genauer der
Eroberung des Vatikans und dessen Annektierung zur der von Frankreich gegründeten römischen Republik spielt, thematisiert das Einzelschicksal der Sängerin Floria Tosca (Sondra Radvanovsky) und
des Malers Mario Cavaradossi (Joseph Calleja), der in der Kirche Sant' Andrea della Valle Zuflucht gefunden hat, vor diesem historisch und politisch komplexen Hintergrund. Mit dieser Thematik und
deren fast filmischer Umsetzung leitet Puccini musiktheatertechnisch das 20. Jahrhundert ein. Auf dieser Grundlage sollte eine filmische Darbietung der Oper eigentlich zuspielen. Doch ist es auch
so? Zuerst einmal ist es sehr dunkel auf der Bühne. Auch später als man die Kirche, in der das Geschehene hauptsächlich spielt bzw. deren bühnenbildnerische Umsetzung vorgesetzt bekommt, ist es
nicht viel heller, was das opulent ausgestattet Bühnenbild leider etwas wenig zur Geltung kommen lässt. Vielleicht hilft es bei Youtube das dunkle Design zu wählen, um sich wenisgtens annähend in
die Atmosphäre versetzen zu können, die dieses Ambiente live im Zuschauerraum auslösen müsste, um sie zumindest im Ansatz erahnen zu können. Auch diese Operninszenierung ist opulent ausgestattet,
die Kostüme (Isidre Prunés) in dunklen kräftigen Farben zeugen von einem modernen Historismus, ohne Museum zu sein. Das Kleid von Tosca ist dabei klassischer und von einem regionalen Modedesigner
(Ulises Mérida) entworfen worden. In Punkto Kameraführung wird lange Zeit keine Totale gewählt und Details bleiben - wahrscheinlich aber auch gewollt?- im Dunkeln. Immer wieder werden Ausschnitte
herangezoomt, auch mal von einem Balkon aus, Gesichter bleiben oft im Dunkel.
Eine Oper ist kein Film
So ein Puccini ist Bombast, der von allen Seiten tönt. Das geben nicht alle heimischen Lautsprecher her. Es geht um Atmosphäre, ums Erleben das Ganzen. Denn eine Oper ist kein Film. Das wird nach
einer längeren Szene zwischen Tosca und Scarpia (das Duett Dov'è dunque Angelotti? in der vierten Szene des zweiten Aktes) klar, als beide liegend bzw. hockend während eines unerwarteten
Zwischenapplauses verharren und die Kamera voll auf etwas draufhält, was bei der Live-Erfahrung weniger präsent gewesen wäre. Auch ist es irritierend, den Sänger die Bühne vollschwitzen zu sehen,
ebenso der wiederholte Close-Up auf Toscas Hände. Zwar ist die Szene durchaus hinreichend filmisch angelegt und kann also solche auch gefilmt erstaunlich gut transportieren, aber diese
unangenehme Applausunterbrechung zeigt die unmittelbare Schwierigkeit in der Aufführungspraxis. Mittlerweile haben wir den dritten Akt erreicht, zu dem es sich auch nicht so einfach vorspulen
lässt, es sei denn man kennt die Struktur des Werkes und hat die Muße auf der Zeitleiste des Players manuell zu suchen. Wieder ist es dunkel und diesmal wurde der Hazer herausgeholt, um
ordentlich Nebel zu machen. Heraus gekommen ist ein sehr atmosphärisches und durch den Bildschirm wirkendes starkes Bild eines Cavaradossi, der einsam und gebückt auf einer Stahlkonstruktion
hockt, die sich später aus umgeklappte Kirchenkulisse entpuppt, das Ganze in Schwarz und Grautönen; unten ist das Gefängnis, oben der Mond, vor dem sich Tocsa am Ende vom Kirchenkonstrukt in de
Tod stürzt. Davor eine weitere dramaturgisch zufriedenstellend gefilmte Szene zwischen Tosca und diesmal Cavaradossi. Insgesamt starke Bilder, die ein Live gebraucht hätten.
Neben bekannten Standardwerken des internationalen Opern-Repertoires, wie man sie sowohl am Provinztheater auch an den namhaften Häusern anschauen kann, bietet uns operavision.eu aber auch eine
Reihe selten gespielter und hierzulande praktisch unbekannter Werke und viel Zeitgenössisches und Modernes.
Drei solcher Beispiele sind Wenn der Farn blüht, ein Opernballet von Yevhen Stankovych aus der Ukraine der 70er Jahre des 20. Jahrhunderts, The Time of Our Singing, eine
zeitgenössische Jazzoper des belgischen Avantgarde-Jazzpianisten und Komponisten Kris Defoort und Benjamin Brittens The Turn of The Screw von 1954.
Die beiden ersteren haben eine so kurze Inszenierungsgeschichte, dass die Kontakt über Operavision bei so ziemlich jedem Zuschauer der erste sein müsste.
Wenn der Farn blüht
Im Fall der ukrainischen Féerie die auf Volkssagen, Zeremonien und nationalen Traditionen des Landes basiert und sich auch musikalisch daran orientiert ist dieser Umstand der Tatsache geschuldet, dass ein erster Inszenierungsversuch 1978 und ein weiterer selbst im Ausland vom damaligen Sowjetregime unterbunden wurden.
2017 wurde das Werk dann im Lemberg Opernhaus praktisch uraufgeführt, eine Inszenierung, die der Mediathek von Operavision vorliegt. Gogol und Folklore inspirierten den Komponisten der Oper im Stil des Neofolklorismus, die sich aber nicht primitiver Rhythmen und Harmonien (wie es Orff oder Stravinsky taten) bedient, sondern auf ukrainische Volksmelodien setzt, die im Solo-oder Chorgesang vorgetragen werden und sich durch ihre Liedhaftigkeit als Gegengewicht zum archaischen Rhythmus verstehen.
Nach einer hektischen ca. fünfminütigen Ouvertüre, bei der das Orchester aus verschiedenen Perspektiven gefilmt wird und nachdem der Vorhang dann gelüftet wurde, entblößt sich dem Zuschauer die
volle Fantasy-Ästhetik der Inszenierung Vasyl Vovkuns, die selbst bei World of Warcraft ihresgleichen suchen würde in Form einer Licht-(Dmytro Tsyperdiuk) und Videoprojektion in fantastischen
Farben und einem im Halbkreis stehenden Chores und einigen Tänzern in folkloristisch-Science-Fiction-artigen Kostümen. Das statische und gleichzeitig dynamische anderthalb-stündige Spektakel, bei
dem bis auf ein paar Tänzerpaare und allein stehender Solisten nur Massenszenen vorkommen, wird passenderweise hauptsächlich in der Totale gefilmt und nur ab und an wird näher rangezoomt, wohl
einfach auch um die bombastische Ausstattung (Bühne: Tadel Ryndzak, Kostüm: Hanna Ipatieva) zu würdigen. Mit solchen Tableaus aus Farbe, Licht, Ton und Bewegung wird eine Volkssage nach der
anderen gesungen und getanzt bis nach einer kurzen Pause nach 40 Minuten der zweite Teil des Stückes eingeleitet wird, und zwar von einem Oboensolo während ein Kameraschwenk die prunkvolle Decke
des Lviver Opernhauses zeigt, bevor alles wieder in Bewegung kommt und regelrecht „losbricht“. Dieser zweite Teil mit seinen Tribal-Elementen, seiner Endzeit-Ästhetik, seinen dunklem und roten
Farben ist eher ein düsteres Ethno-Feuerwerk, dass mit seinen Trommeln jetzt doch an Stravinsky erinnert, eine Art „Rite of Spring der Postmoderne" vielleicht wenn an so will…
Ein solches Spektakel, mag die Musik auch wie aus einer andren Welt sein, ist nicht verträumt, sondern durchaus spannend und das bisweilen im reizüberflutenden Sinne zwecks ruckelnder Tempi, was
die Live-Erfahrung zwar noch begünstigen würde, beim Stream jedoch kann man aussteigen und ihn nutzen, um das Werk, das durchaus sehenswert ist, immerhin kennen zu lernen.
The Time of Our Singing
Die nächste Opernkuriosität „The Time of Our Singing“ schlägt die Brücke zwischen Jazz und Oper. Diese sogenannte Jazzoper spielt im Jahr 1939 und thematisiert der Beziehung einer schwarzen Frau
zu einem weißen Mann, deren Kindern und ihrem Leben als Musikerfamilie in Zeiten der Rassentrennung. Inspiriert von Richard Powers großem amerikanischen Roman aus dem Jahr 2003 wurde die Oper
erst kürzlich vom belgischen Komponisten Kris Deefort geschrieben und feierte im September diesen Jahres, also 2021 in einer Inszenierung von Ted Huffman im Brüsseler Opernhaus LaMonnaie/DeMunt
seine Weltpremiere, wohl gleich aufgearbeitet für den Stream auf OperaVision.
An dem vollbesetzten, aber sämtlich mit OP-Masken maskierten Publikum, das während das Orchester, das seltsamerweise nicht maskiert ist, den Kammerton spielt, welches während die Kamera noch
einen Schwenk auf die Decke unternimmt, unruhig hin und her schaut, wird zweifelsfrei klar, dass diese Aufnahme nicht bereits Jahre alt sein kann. Nach Einblendung der Mitwirkenden und anderen
Informationen für den Zuschauer des Stream wird in die Totale gewechselt und die links und rechts der Bühne installierten alten Kerzenleuchter kontrastieren das minimalistisch moderne Bühnenbild
das das sich im Guckkasten befindet und das sich aus einem schwarzen Hintergrund zusammensetzt, in dessen Mitte ein grauweißer Quader platziert ist, der später als Projektionsfläche für Namen von
Figuren, angekündigte Zeitsprünge, Überschriften sowie Bild und Filmausschnitte verwendet wird. Ferner besteht die Ausstattung der Bühne nur aus im Halbkreis angeordneten Tischen, ein paar
Stühlen und einem Pianisten, der samt Klavier auf der Bühne installiert ist und gemeinsam mit dem Saxofonisten die ersten Töne der Oper erzeugt, die sofort die Warm-geheimnisvolle Atmosphäre
eines Jazz-Clubs erzeugen. Während dieser Art Ouvertüre kommen in unregelmäßigen Abständen immer mehr Menschen auf die Bühne, alle in unauffälliger Alltagskleidung, Schwarze wie Weiße.
Nacheinander fangen sie an zu singen und erzählen die Geschichte der Oper samt Vorgeschichte, immer mehr Personen kommen dazu, immer neue Spielsituationen entstehen. Die Musik ist zumeist
modern-sinfonisch und oft sperrig, so dass sie praktisch keine sinfonischen Elemente mehr enthält und mit ihren Drums und Bässen eher an zeitgenössische Clubmusik erinnert. Manches Mal sprechen
die Charaktere anstatt im Kunstgesang singen. Das unterscheidet das Werk deutlich von sinfonischem Jazz wie er bspw. in Porgy und Bess zu finden wäre. Zweieinhalb Stunden braucht es bis in dieser
Struktur die Geschichte zu Ende erzählt ist.
The Turn of The Screw
Das dritte moderne Werk ( auch im eigentliche Sinne) ist die Oper The Turn Of the Screw von Benjamin Britten aus dem Jahr 1954. Angelegt als Gruselgeschichte die in einem alten englischen
Herrenhaus spielt ist dieser „Psychothriller im Kammeropernformat“ schon für die Bühne eine Herausforderung und es liegt nahe, dass ihm das Filmische nicht unbedingt schaden muss.
Sicherheitshalber wird bei der Inszenierung kein Risiko eingegangen, indem neben der eigentlichen Regisseurin der Oper (Andrea Breth) auch noch eine Filmregisseurin (Myriam Hoyer) am Werk war um
die Inszenierung für das Brüsseler Opernhaus LaMonnaie/DeMunt sicher auf die Ebene der digitalen Präsentation zu retten, denn immerhin singen hier auch Geister und die sollen auch als solche
erkannt werden…
Inszenierung mit eigenem Film -Regisseur
Wie ein Film beginnt auch das Video auf YouTube, bei dem nur ein Bild des Opernhauses zu sehen ist, und die Namen der an der Produktion beteiligten zu lesen sind. Auf der Tonspur scheint eine Art
Geräusche-Atmo des Saals zu laufen. Nach einem schnellen Schnitt wird zugleich die Bühne gefilmt auf der sich gerade der Vorhang gelüftet hat. Ob es in diesem Saal Zuschauer gegeben hat, wird
nicht gezeigt, ebenso wird das Orchester erst in der Mitte des Stücks sporadisch präsentiert. Alle Zeichen stehen hier auf Film- und zwar auf dem eines düsteren Film Noir, der aber nicht
schwarz-weiss daherkommt, sondern in kühlen grün, braun und Grautönen (Bühne: Raimund Orfeo Voight, Kostüm: Carla Teti). In den hohen Räumen gibt es viele obskure und umheimliche Momente, schräge
Elemente und das Tempo ist passend zur Musik selbst in den dynamischeren Momenten zäh und starr. Die Effekte funktionieren im großen gut und die Lichtregie schafft es zumindest die Stimmung etwas
rüberzubringen mit den Bildern die während der fast zwei Stunden in dem Prolog mit seinen zwei Akten entstehen, obwohl nicht jeder Zuschauer der Meinung ist („I think this is a really difficult
production to film. There is a huge contrast between well-lit and dark areas. Too many blurry camera shots and a significant ‘pixelation’ of the background pulls something down in the theatrical
experience. On balance I think the videographer does a very decent job, but it’s definitely a production that would benefit greatly from filming in 4k and - if I dare mention - HDR.“).
Ein wenig älter, aber nicht unbedingt mehr Repertoire und demnach bekannter sind zwei weitere Schätze die von Operavision geborgen wurden, einer davon aus Polen, der andere aus Österreich.
Bei der 1922 uraufgeführten Oper Der Zwerg handelt es sich zwar um ein Werk der Moderne (wenn auch mit starkem spätromantischem Einfluss!) und das bekannteste Werk des österreichischen Komponisten Alexander Zemlinsky, dessen Werk aber erst über 30 Jahre nach seinem Tod wirklich entdeckt und gespielt wurde und der Grund dafür ist, dass Zemlinsky von allen österreichischen Opernkomponisten eher nur wenigen ein Begriff sein müsste. Basierend auf einer Erzählung Oscar Wildes, des Meisters der Reflexion über den schönen Schein und dessen Abgründe, handelt die Geschichte von einer Prinzessin am Spanischen Hof, in die sich ein Zwerg der ihr geschenkt wurde, verliebt und der sich selbst aber für einen Ritter hält. Als der am Ende realisiert wie hässlich er ist und dass seine Liebe nicht erwidert wird, bricht er zusammen und nicht mal das Mitleid von Zofe Ghita kann ihn retten.
Die Dutch National Opera& Ballet hat sich 2021 diesem Werk gewidmet und im September diesen Jahres nicht nur mit der Inszenierung insgesamt eine Premiere gefeiert, sondern diese Produktion
ist gleichzeitig auch das Operndebüt der Film- und Theaterregisseurin Nanouk Leopold sowie die erste Produktion des Dirigenten Lorenzo Viotti als Chefdirigent an diesem Haus.
Auch diese Produktions setzt gleich eher auf einen Film als nur eine Aufzeichnung. So beginnt das Video aus der Nähe gefilmten nicht erkennbaren Dingen und einem hellen Hintergrund wie hinter
einem Schleier, während ein erst später sichtbares Orchester sich einstimmt. Das erste Bild sind Mädchen, die zusammen mit Schweinen im Schlamm liegen und aus der Vogelperspektive zu sehen sind.
Daraufhin sind nach hinten offene Boxen zu sehen, die vor dem Orchester im Graben platziert sind und die rosabetüllten Mädchen, von denen eines ein Mann ist, klettern simultan von der Passarella
in die Boxen, in denen sie die ganze Aufführung über bleiben werden. Dahinter befindet sich die Videoleinwand, auf die die Sequenzen mit den Figuren im Schlamm und auf einer Wiese projiziert
werden, bei denen man jetzt sieht, dass sie vorher gefilmt wurden. Auch wird hier wahrnehmbar, dass alle Figuren (der Infantin Hofstaat) Schweinefüsse und Schweinsköpfe als Hüte tragen
(Kostümbild: Wojciech Dziedzic) und mit ihrem rosa Tüll die einzigen Farbtupfer in dem Schwarz-Grau der Bühne sind (Bühnenbild: Leopold Emmen). Neben den Quadraten mit den Filmen des Hofstaats
werden auch Aufnahmen des Orchesters beim Spielen quaderartig auf die Leinwand projiziert. So überlagern sich die Kisten visuell auch in Form der Videos. Das Spiel leisten die Sänger als
Filmprojektionen, der Gesang wird live im Kasten vollzogen. So wird die Geschichte lange sängerisch erzählt, die Geschenke werden nicht gezeigt, nur beschrieben. Bevor der Zwerg auftaucht, wird
es spannend, da zeigt auch die Musik ihre modernsten Momente- und ihre Instrumentalsten. Derweil wird durch Kameraführung und Lichtregie (Licht: James Farncombe) sichtbar, dass der Zwerg die
ganze Zeit über im oberen Kasten im Dunkel lag. So hässlich ist er nun nicht, halt einfach ein kleiner dicker Mann, dessen Kostüm auf den ersten Blick einem modernen Kunstwerk gleicht und dass
seine Special-Effects (ausfahrbare Vogelflügel) lediglich im Video zeigt.
Als Juwel der polnischen Oper, das im Ausland praktisch unbekannt ist, gilt „Das Gespensterschloss“ aus dem Jahre 1863 von Stanislaw Moniuszko, der auch als Schöpfer der polnischen Oper gilt. Operavision hilft der Welt dabei in den Genuss dieses Werkes zu kommen, indem die Plattform nach einer bereits 2015 gestreamten Inszenierung jetzt eine aktuelle Inszenierung der Oper in Poznan zeigt. Im Nationalismus des 19. Jahrhunderts entstanden vereint in Das Gespensterschloss Romantik und das sofort spür- und hörbare Volks-und Lokalkolorit, das die Geschichte um zwei Brüder erzählt, die aus dem Krieg kommen und sich eigentlich geschworen haben, auf Ewig Junggesellen zu bleiben, am Ende aber doch zwei Schwestern, die einem geheimnisvollen Herrenhaus, in dem es angeblich spuken soll, ehelichen.
Die Inszenierung von Ilaria Lanzino (Regie) und Marco Guidarini (Musikalische Leitung), den einzigen beiden Nichtpolen der Produktion, wird von Operavision in einer postproduzierten Version zur
Verfügung gestellt, nachdem im Juli 2021 die Premiere live auf dem Portal ausgestrahlt wurde. In einem vollen Saal mit maskierten Zuschauern treten opulent kostümierte Soldaten in schwachen Licht
auf, die einen längeren Zeitraum über non-verbal spielen, nachdem zu Beginn das unmaskierte Orchester mit einem Kameraschwenk gewürdigt wurde. Die Kostüme sind auf den ersten Blick schwer
einzuordnen, denn sie scheinen ein phantastisch anmutendes Sammelsurium historischer osteuropäischer Kleidung des 17. bis 19. Jahrhunderts zu sein. Die beiden Brüder sind durch besonders
auffällige Uniformen deutlich von der Menge zu unterscheiden, die es auf der eher schmal anmutenden Bühne ziemlich eng erscheinen lässt. Die Kameraführung (Video-Direktor: Leszek Stryla)
unterstützt den Fokus auf die Hauptfiguren zusätzlich. Grundsätzlich wird viel von halb oben gefilmt, möglicherweise auch, weil das eine Live-Erfahrung eines Logenzuschauers simulieren soll? Der
schnelle kleine Umbau der Bühne ohne Vorhang nach dem ersten Akt zeigen spätestes jetzt in aller Deutlichkeit, dass es eine geschnittene Version des ursprünglichen Streams ist. Die Wand im
Hintergrund, die die Bühne so klein wirken lässt, wird später dann für Projektionen genutzt. Nach 40 Minuten und dem Ende des zweiten Aktes wieder ein Publikumsschwenk, vom dem sich die Meisten
ihrer Masken mittlerweile entledigt haben. Als sich diesmal der Vorhang hebt müsste der eine oder andere von ihnen sicherlich eine ziemliche Überraschung erlebt haben, denn die pittoresken
Dorfbewohner mit Mistgabeln a la Disney’s „Die Schöne und das Biest“ die singend vor dem Geisterschloß warnen sind einer Gruppe modischer Mädels in einem popp-artigen Ambiete mit offenem Raum und
bunten Treppen gewichen, das zeigt, dass man im Gespensterschloss mittlerweile in der Postmoderne angekommen ist. Inmitten natürlich der Vater der Prinzessinnen, ein alter Veteran, der im
Rollstuhl von seinem idealen Schwiegersohn phantasiert(„polnische Tracht und keinen neumodischen Frack“). Die Mädchen jedoch lassen sich nicht beirren und feiern mit dem Hofstaat ausgelassen
Silvester inklusive Bleigießen. Im nächsten Akt erleben die Brüder das Gespensterschloss bei Nacht und fürchten sich. Nur: Für den Zuschauer sollte da ganz und gar nichts gruselig sein. Zwar
bewegen sich Bilder, jedoch sind die Tänzer (Choreografie: Viktor Davydiuk; Tänzer: Poznan Opera House Ballett) mit wahlweise Banane, Kleiderbügel oder Regenschirm in der Hand, indem sie sich
wenig später auch noch in eine Regenbogenfahne einwickeln und damit pc mit dem Holzhammer betreiben, aber höchstens für die ewig Gestrigen gruselig, für alle anderen vielleicht eher irritierend.
Neben hauptsächlich Opern bietet Operavision ja aber auch einige Streams anderer Genres der Darstellenden Kunst bzw. der Musikrezeption an. In der Sparte Tanztheater derzeit nur einen Beitrag, und zwar Stravinskys Sacre du Printemps (Das Frühlingsopfer) von 1913, choreografiert vom haitianischen Choreograf Jeanguy Saintus, der die „Bilder aus dem heidnischen Russland“ durch die Brille Haitianischer Folklore sieht und von der heidnischen Archaik und den rituellen Handlungen aus christlicher Vorzeit übergeht zu der spirituellen Welt des Voodoo seiner Heimat und statt der Opferung eines Mädchens einen Austausch mit der Geisterwelt inszeniert. Die Aufführung der Opera North mit dem zeitgenössischen Tanzensemble „Phoenix Dance Theatre“ wurde 2019 im Leeds Grand Theatre aufgeführt und aufgenommen, ist also eine der nicht durch Corona beeinflussten und entstellten Produktionen.
The Rite Of Spring
Nach einem extremen Close-Up auf den „Safety Curtain“ und dessen Ornamentik wird schnell klar, dass den Zuschauer des Streams ein 35-minütiges Spiel mit den verschiedensten Kamera-Perspektiven
erwartet schon bevor sich beim bekannten Oboen-Thema zu Beginn der Vorhang hebt und den Blick freimacht auf die Tänzertruppe, die zu diesem Zeitpunkt noch im Dunkel steht auf einer Bühne die
schwarz und leer ist. Alle Tänzer, die in ihren Formationen regelmäßig bereits von Beginn an aus der Vogelperspektive zu erleben sind, tragen weiße fließende Overalls mit wenigen bunten Details
allen voran bunten Handschuhen als Blickfang (Kostüme: Yann Seabra). Regelrecht kaleidoskop-artig wirken diese Formationen auf den mittels Licht auf den Bühnenboden projizierten Ornamenten
(Licht: Richard Moore). Zum Ende hin werden die Schnitte schneller, simultan zur sich steigernden Dramatik der Musik (Musikalische Leitung: Garry Walker). Auch das Orchester (Orchester der Opera
North) ist dann häufiger im Bild. Die Ausschnitte und die Winkel, aus denen die Tänzer gefilmt werden sind aber durchaus abwechslungsreich und interessant- mal mit wie halb abgedeckter Bühne und
mal von der Seitenbühne gefilmt. Die Kamera ist durchaus in der Lage die Stimmung und das Geschehen nacherlebbar einzufangen, wenn die technischen Rezeptionsbedingungen gut sind; eine hohe
Auflösung des Bildes ist hierbei bsw. unabdingbar, um den dynamischen Bewegungen gerecht zu werden.Dennoch fehlt für die volle Wirkung des Tanztheaters die reale spürbare Präsenz von Körpern im
Raum, was keine Kamera der Welt leisten kann. Wenn schon Oper audiovisuell ist, aber doch in erster Linie auditiv kommuniziert ausreichend, denn Oper ist Musik; aber Tanz ist Musik UND Bewegung
und keine nur visuell Erlebbare. Auch dass das wiederholte Filmen des Orchesters manch einem Ballettfan sauer aufstößt, weil das auch die Magie des Tanztheaters zerstöre wird in den Kommentaren
zum Beitrag angemerkt:
"Too much camera on the orchestra. It was distracting. In ballet, the music is for the ears. The dancers are for the eyes."
"I have a dream that one day I will be able to see a ballet on screen that doesn't give me a headache and motion sickness. When will we ever see a performance the way the choreographer
intended?"
"I think the director for film/broadcast wasn’t told whether this was an orchestral concert (albeit with an orchestra in a pit) or a ballet performance. As a result much of the sensational
dancing was truncated by flashy jump cuts to orchestral players or the conductor (and the costume designer could perhaps commission a shirt for him). This was a grave disservice to both dancers
and choreographer. If it’s not too late do us a new edit, the performance deserves it."
"Who ever goes to watch a ballet and then wants to see the musicians play? No one I know of. They should have made a decision of it being a ballet or a musical performance. Or perhaps make
two versions -1 of Ballet and 1 of Musicians to satisfy people but not both as here."
"Sorry. Can't watch it. Completely spoiled by mad 5-second cutting."
Im Gegensatz zum Sprechtheater und seinen Überschneidungen mit den Performancehybriden und Ähnlichem haben das Musiktheater bzw. Die Oper ihre strikten Formen und Strukturen, die, um die Werke
als solche aufführen zu können, eingehalten werden müssen. Es sind also keine digitalen Experimente möglich, die mit der Form als solcher spielen und/oder sie dekonstruieren. Was bleibt ist das Aufführen ihm herkömmlichen Sinne und das Draufhalten mit der Kamera. Das an sich ist aber
durchaus keine neue aus der Corona-Not entstandene Idee. Schon seit Jahren bieten namhafte Opernhäuser mit weltweitem Renommee wie die MET Besuche ihrer Inszenierungen per Live-Stream von
Lichtspielhäusern aus an- auch in Deutschland und wer erinnert sich nicht an die Zeiten als öffentliche-rechtliche Fernsehsender weit aus mehr Opern im Programm hatten als es heute der Fall
ist?
Auch bei diesen Beispielen waren die Ergebnisse nicht einfach Aufzeichnungen, bei denen stundenlange starr aus der Totale die komplette Bühne abgefilmt wurde. Es gab eine Kameraführung aus
verschiedenen Winkeln, es gab Schnitte, Heranzoomen und weitere Techniken aus dem Film.
Demnach ist es ratsam, sich ein gutes (!) Filmteam und zur Sicherheit auch noch einen Filmregisseur mit ins Boot zu holen. Solche „Filme“ sind die Streams, die bei Opera-Vision angeboten werden,
fast allesamt, wobei es einen Unterschied macht, ob eine Inszenierung gleich für den Stream vorgesehen war, oder früher für das Live-Erlebnis und erst adaptiert werden musste, um als Film
funktionieren zu können. Und auch das Filmische hat Vor- und Nachteile - und Bereichen, bei denen das Medium an seine Grenzen kommt oder sogar in Konflikt mit dem Medium Oper kommt: Denn eine
Oper ist kein Film, sie ist eine Oper.
Auch bestimmt die gefilmte und geschnittene Aufführung die Art der Rezension durch den Zuschauer, dessen Blick anders gelenkt wird als im Zuschauerraum, was aber ein Bemerken von Detail erst
möglich machen kann. Durch bestimme Kamera-Führung (POV) kann sogar versucht werden, einen Live-Eindruck so gut wie möglich zu simulieren.Ebenso muss man sich fragen, ob das Wissen, ein Stream zu
werden, gar den Inszenierungsprozess dahingehend beeinflussen kann. Bei Der Zwerg kann vermutet werden, dass dies der Fall war, spielt dessen Regiekonzept offensichtlich mit dem Prinzip Film und
lotet durch das „Bild im Bild“ dessen Möglichkeiten aus.
Ein Stream statt einer Live-Aufführung, die man besuchen muss, bietet Vorteile, wie die große Auswahl an Sprachen bei den Untertiteln, auch das Fehlen einer Pause bzw. Das Schauen im eigenen
Tempo kann helfen, einer Reizüberflutung entgegen zu wirken. Jedoch nimmt gerade das auch manch einen Effekt. Ein weiterer Vorteil des Opern-Film ist, dass durch den Schnitt Umbauten möglich
sind, die live nie und nimmer realisierbar gewesen wären.
Ingesamt haben es die unbekannten Werke leichter, im Stream zu überzeugen, haben sie doch den Kennenlernen-Bonus, der den Zuschauer bei der Stange hält, der in solchen Fällen vielleicht nur
deshalb weiter zuschaut, wohingegen ein tausendfach inszeniertes Werk den vielen Vergleichen trotzen und deshalb umso mehr überzeugen muss, um mit der „Live-Konkurrenz“ mitzuhalten. An einen
Don-Giovanni bsw. hat man eben andere Ansprüche als ein nie gespieltes Werk aus Osteuropa. Besonders, wenn trotz gutem Film klar wird, dass da etwas in den Bildern ist jenseits der reinen
Visualisierung, das ein Live gebraucht hätte, um vollends wirken zu können (Tosca), besonders beim Genre des Tanztheater wird das Problem der fehlenden Körperlichkeit deutlich. Turning of the
Screw hingegen zeigt, dass Horror auf der Bühne nicht nur live, sondern auch im Stream noch eine Herausforderung ist.
Rein technisch würde es schonmal helfen, die Streams von der äußeren Form und technischen Bedienbarkeit einheitlich zu halten, werden sie doch auf der Sammelplattform nebeneinander gleichwertig
präsentiert.
Ein Defizit des Stream-Prinzips ist ganz klar, dass der Zuschauer sich den Rahmen für die Rezeption selbst schaffen muss. Er muss die technischen und räumlichen Rahmenbedingungen schaffen, um in
den Genuss des möglichst vollen Potential der Aufführung zu kommen, die er sich anschauen möchte. Er hat es in der Hand, wie zufriedenstellend sein Opernabend ist, weil alle Parameter eine
konventionellen Opernbesuches außer Kraft gesetzt werden. Diese völlige Auflösung aller Konventionen kann das Medium Oper demokratischer gestalten, gibt der Stream doch theoretisch jedem Menschen
mit Internetanschluss die Möglichkeit, Oper zu erleben, das gleiche Werk zu sehen, wie jemand, der sich eine teure Eintrittskarte leisten kann. Oper für jedermann wird so möglich, auch für
irgendeinen beliebigen YouTube-Zuschauer, der vielleicht nur zufällig auf das Video klickt und sonst vielleicht niemals mit Oper in Berührung gekommen wäre.(„This is my first Tosca. Am I the only
one here who genuinely loved it?! Sure, the naked lady is weird, but she seems to be a symbol.“, „ I would like to hear it sung with chest voices. Just a dream…) Von diesen Aspekt her zumindest
bietet der Stream ein ungeheures Potential die Rezeption dieses Genres so breit wie nie zuvor zu gestalten, alle räumlichen und finanziellen Barrieren zu sprengen. Jedoch darf nicht unterschätzt
werden, das ein Opernbesuch ein Erlebnis ist, ein Event, für das man sich bewusst entscheidet, für das man sich herrichtet und das um das reine Schauen der Aufführungen eine Rahmen herum bietet,
den kein Stream der Welt leisten kann, schon allein, weil der nicht alle Sinne bedient, das ErLEBEN nicht bietet, sondern nur das Konsumieren. Vielleicht bietet Oper im Netz, von Zuhause aus,
Möglichkeiten, aber als alleinige Zukunft der Opernrezeption fehlen ihr Komponenten.
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