Das Kind beim Namen nennen
Die Oper, dieses audiovisuelle Theatererlebnis, wunderschöne kunstvolle Welt für sich, die, wenn sie das will, zugleich hochästhetisch wie hochpolitisch sein kann, die scheinbar unvereinbare Gegensätze miteinander zu einem Gesamtkunstwerk verwebt, und es doch nicht schafft, gleichzeitig (ästhetisch) anspruchsvoll wie marktorientiert zu sein. Die, als ein Genredinosaurier seit der Barockzeit, deren vollständiger Modernisierung immer die ihn ausmachende Musik im Weg steht, dennoch nicht ad acta und auf den Müllhaufen der Theatergeschichte geworfen wird, die wie ein Damoklesschwert über jedem Dreispartenhaus zu schweben scheint und den (post-) modernen Regisseur provoziert, wie herausfordert, ihr mit allem Mittel der zeitgenössischen Regietheatertradition zwangsmodernisiert den politischen Stempel aufzudrücken.
Natürlich gibt es Ausnahmen, ist man sich alternder Abonnenten doch nach wie vor schmerzlich bewusst, denen man ab und an mal eine lieblos zusammengeschusterte „klassische“ Inszenierung serviert.
Das Ergebnis sieht in der Regel dennoch meist folgendermaßen aus: „Brechts Musiktheater“ für eine ganze kleine Gruppe sich selbst feiernder Kulturschaffender, gefangen in ihrer Blase, bewertet und beschimpft von Kritik und Zuschauer. Ein ewiger Kreislauf, Spielzeit für Spielzeit und niemand scheint ernsthaft vorzuhaben, daran etwas zu ändern.
Um dich diese „Problems“ annehmen zu können, ist es von Vorteil, sich dieses zuallererst einmal einzugestehen - und die Kulturbubble mal für einen Moment zu ignorieren, um eine aus deren Sicht sicher gewagte These aufzustellen:
Die Oper darf nicht nur ästhetisch-eskapistisch sein, sie muss es.
Die Oper ist trotz allem immer noch ein Hort für Musikliebhaber
Dann ist es nicht verkehrt, sich zu fragen, wer denn alles überhaupt in die Oper geht*, außer der sich selbst feiernden Kulturbubble und deren Kritikern.
Da wären zum einen die, ich nenne sie mal alten „Klassiker“. Der typische Abonnent im fortgeschrittenen Rentenalter, der gelernt hat, dass die Oper ein kultivierter Zeitvertreib ist, bei dem man höchsten musikalischen Genuss und eine Flucht vor der grauen Realität erwarten kann, wo alte Werte hochgehalten werden und das Bildungsbürgertum noch unter sich ist. Nicht selten kommen diese Zuschauer wegen der Musik und sind über die Inszenierungen praktisch nie erfreut. Wenn in einer Kritik steht, dass die Sänger und der Dirigent viel Applaus und die Regie Buhrufe bekommen hat, dann ist eigentlich immer dieses Lager gemeint.
Die zweite Gruppe ist in weiten Teilen sogar mit der ersten deckungsgleich, unterscheidet sich oft nur in Alter und anderen sozialen Parametern von ihr. Während bei den älteren Abonnenten durchaus auch Exemplare mit weniger musikalischer Bildung dabei sein können, besteht die zweite Gruppe neben all denjenigen Akademikern, für die ein Opernbesuch vor allem prestigeträchtig sein kann (vorher zum Nobelitaliener, im urbanen Raum an anderen Tagen in der neuen hippen Pop-up-Galerie), locker im Budget liegt, und die das ganze natürlich vor allem als Event sehen, aber auch in nicht unwesentlichen Teilen aus den Musikexperten, die sich von Berufswegen mit der Materie möglicherweise ebenso gut auskennen wie das musikalische (ich sage hier an dieser Stelle bewusst nicht Regie!) Team. Hier gibt es durchaus Überschneidungspunkte mit dem Kritikerlager.
Kommen wir zu guter Letzt zur dritten Gruppe, denen, die in anderen Bereichen gut und gerne als Fans bezeichnet werden würden. Die sich eine Karte kaufen, weil sie Freude am Gezeigten haben, weil sie von der Kunst beeindruckbar sind und weil sie den Eskapismus, der ihnen das Genre bietet, wie kaum ein anderes im Theater, erkennen und zu schätzen wissen. Nicht selten wählt diese Fraktion lieber etwas "Leichtes" wie eine Operette oder gleich ein Musical.
Diese letzte Gruppe ist es, der man die Aufmerksamkeit schenken sollte, denn sie ist die wohl kleinste, gleichzeitig aber auch die mit dem möglicherweise größten Mehr - und Marktwertpotenzial.
Und wenn sie vereinzelt trotz der aktuellen Inzenierungssituation kommt, dann würde sie mit einem auf sie besser zugeschnittenen Konzept in Scharen die Opernhäuser aufsuchen.
Einem, in dem die Musik im Vordergrund steht, deren visuelle Umsetzung Hand in Hand mit ihrer Ästhetik geht.
Doch wie könnte diese potenzielle Zuschauergruppe aussehen?
*Diese Einordnung stellt eine Interpretation des Ganzen dar und stützt sich natürlich keinesfalls auf wissenschaftlichen oder empirische Studien. Sie liegt meiner höchst eigenen Einschätzung zugrunde und dient als Untermauerung meines Konzeptes, das ich im Folgenden vorstellen und ausbauen möchte.
Es mag sowohl für dem traditionellen Operngänger als auch den Freund moderner Regietheater-Experimente geradezu absurd klingen, wenn sie erfahren, dass Rezipienten musikalischer und musiktheatralischer Hochkultur durchaus nicht unbedingt nur in kulturell verwandt geglaubten Sphären wie etwa vielleicht der Jazz-Szene oder im Umfeld der modernen bildenden Kunst zu finden sind, sondern exakt dort, wo nicht nur dem uninformierten Kulturkonsumenten wohl sicher nicht nur musikalisch die Nackenhaare zu Berge stehen würden: in der vor Klischees und Vorurteilen nur so durchsetzen Welt des (Heavy) Metal.
Von Außenstehenden als primitive „Proletensubkultur“ voller Krach und Geschmacklosigkeit beäugt, von Innen heraus nicht selten von mitunter exklusivem Elitarismus geprägt und sicher so weit von der Oper entfernt wie nur irgendwie möglich, könnte man meinen, dass diese beiden Welten per se eigentlich unvereinbar sein müssten, doch weit gefehlt: Die Schnittmenge beider Gattungen ist nicht nur größer als selbst dem aufgeschlossenen Rezipienten bewusst sein dürfte, sondern könnte sogar eine Lösung bieten für ein mögliches Szenario progressiver und erfolgreicher Operninszenierung zugleich.
„Wagner ist der Größte“ - Bayreuth als zweites Wacken
Ich falle hier einmal gleich mit der Tür in Haus und weise darauf hin, dass ich den Hörer von (Heavy) Metal - selbstverständlich nicht jedes einzelne Individuum, wohl aber einen imaginären
Prototyp- als potenziell vielversprechendsten Opernbesucher der Zukunft sehe, denn er ist sowohl den typischen Sujets und der Ästhetik der Oper gegenüber offen, ohne eine politisch motivierte
Zwangsmodernisierung zu verlangen als auch der Musik so wie sie ist. Zumindest der eines ganz bestimmten Komponisten: Richard Wagner. In Kreisen der E-Kultur bekannt als
der Erfinder des Musikdramas und in der Welt des Metal als der Erfinder des Genres.
Richtig, das Wagnersche Musikdrama ebnete den Weg für den Heavy Metal, zumindest wenn es nach einigen Musikern des Metal geht, die sich in direkter Nachfolge zum Komponisten sehen, nennen ihn
ehrfurchtsvoll „our father of metal“. Allen voran der Bassist und Komponist der True-Metal-Band „Manowar“, Joey DeMaio. Mit einem Doktortitel in Musikwissenschaften sollte er
also auch ein ernstzunehmender Ansprechpartner sein, wenn es um die Fähigkeit geht, einen solchen Vergleich zu ziehen und argumentativ zu untermauern. Um seine persönliche Verehrung für „seinen
Helden und sein Idol“ nach dessen Villa er sogar sein Tonstudio benannt hat („Haus Wahnfried“) macht Metal-Musiker deMaio jedenfalls keinen Hehl, wie er in einem Interview mit der TAZ nicht müde ist, zu erwähnen („Wagner ist der
Größe!“). Er attributiert Wagner „martialisch“, „bombastisch“ und „sinfonisch“ zu sein und betont, dass all dies die kitschigen Fantasiewelten, in die der Hörer Manowars eingeladen ist,
einzutauchen, immens beeinflusst hat und dies eben nicht nur thematisch, sondern auch musikalisch.
Ein Beispiel eines weniger bekannten Metal-Acts, für dessen musikalische Entwicklung und Konzept das Werk Wagners eine entscheidende Rolle gespielt hat, ist das Projekt
Lyraka.
In seinem Blog hat deren Gitarrist und Komponist Andy DiGelsomina verschiedene Einträge veröffentlicht, in
denen er von seiner Erfahrung mit der Musik Wagners berichtet („My wagner experience“, dem Moment, in dem es, wie er erklärt „klick“ macht und der Hörer unwiderruflich zum Wagnerianer wird) und
der Bedeutung, die sie für ihn hat sowie dem (spirituellen!) Einfluss, die diese wiederum auf sein eigenes musikalisches Werk (und Leben!) hat.
Er berichtet einerseits offen von den Schwierigkeiten, die er am Anfang seiner Rezeption von Wagners Ring hatte, wie dass er zwar bewegt von den „Highlights“ des Werks war, aber überwältigt und
überfordert ob dessen Umfang und dass es ausgerechnet Joey deMaios (!) "Wagner Experience" war, die ihn ermutigt hat, sich dem Ring wieder zuzuwenden und zu öffnen und andererseits von den
Beobachtungen und Erkenntnissen, die er gemacht hat und die zeigen, wie sehr Metal und Wagner sich aus Sicht eines exemplarischen Metal-Hörers und Komponisten ergänzen.
So stellte er etwa fest, dass
-es hilfreich sein kann, sich dem Werk erst über die „Highlights“ zu nähern, bevor man es sich im Ganzen vornimmt
-dass das Libretto am Anfang des „Eintauchen“ behindert hat
-man für Wagner „leer und offen“ sein sollte
-ihm eine „traditionelle“ Inszenierung beim Verstehen half
Dieses intensive und unvoreingenommen Nachdenken über das Werk Wagners liefert Erkenntnisse, die nicht nur interessant an sich sein könnten, sondern auch dabei helfen können, den Komponisten
möglicherweise aus einem anderen Blickwinkel und in einem anderen Licht zu sehen als die „normale“ und „gängige“ Forschung und gesellschaftliche Kulturrezeption es tut.
Neben der immer wieder erwähnten Verehrung für das Werk Wagners, wie etwa das, was er für die Musik allgemein leistete (Sprengen der Grenzen) und was allgemein in Forschung und Rezeption bekannt
sein sollte, stellt er selbst Thesen auf, die darüber hinaus gehen und die eine intensive und vor allem ernsthafte Beschäftigung mit dem Stoff zeigen.
So betont er etwa nicht nur, dass er feststellte, dass Wagner seine Musik oft dem Libretto anpasste, sondern auch, dass er das Verstehen des Konzeptes hinter Wagners Werk gebraucht hat, um es
schätzen zu lernen.
So macht er etwa auf den Gebrauch von Symbolen und die Archetypen hinter den Charakteren und Situationen in den Musikdramen aufmerksam, welche die Interpretation der Einzelheiten dem Individuum
überlassen sollen.
Auch die Vermutung, dass Wagner möglicherweise in seinen Musikdramen die Psychologie des 20. Jahrhunderts vorwegnimmt, wenn er schreibt, dass das Orchester das Innenleben der Figuren zeigt, teilt
er mit seinen Lesern.
Darüber hinaus ist natürlich die besondere Rolle, die er dem Komponisten Wagner für das Genre (Heavy)Metal und dessen Sujets zukommen lässt, zentral („Wagner definierte Metal“). Dass
Wagner bspw. Filmmusik „erfand“, ist auch in musikwissenschaftlichen Kreise nicht anzuzweifeln, dass er aber auch gleich den Heavy Metal erfand, hat sich meines Wissens nach in ebendiesen Kreisen
noch nicht durchgesetzt. Für Musiker DiGelsomina hingegen sind solche Thesen eine Selbstverständlichkeit, als wären sie längst bewiesen wie Naturgesetze. So nennt er etwa Beethoven und Wagner als
wären sie ebenbürtige Interpreten des Heavy Metal und gleichzeitig der ernsthaften bzw. „Klassischen“, möglicherweise sogar der klassischen Musik, setzt musikalische Parameter des Heavy Metal an
den „Ring“ an („rushing heavy metal parts“, „metallic“, „Most metallic Recording“) und erkennt und erwähnt wiederum Werke des Metal, in denen er die Strukturen Wagners erkennt und eine
Verbindung zu dessen Kunst sieht.
Eine erste Annäherung
Diese Beispiele (einmal Manowar, einmal Lyraka) mögen exemplarisch sein, sie dürften aber bei Weitem nicht die einzigen ihrer Art sein.
Was sie auf jeden Fall eint, ist
In diesen drei Punkten zumindest haben die Metal-Vertreter der „konventionellen“ Rezeption, die wir alle kennen, meiner Meinung nach einiges voraus und lösen sogar das Haupt-Problem, das mit der Wagner-Rezeption nach 1945 Hand in Hand geht und das fast die gesamte Ablehnung ausmacht, denn solange man bei Kitsch und Pathos noch sagen kann, es sei Geschmacksache, sollte man dies beim Thema Nationalsozialismus doch bitte tunlichst vermeiden, es sei denn mal will sich ein One-Way-Ticket ins Gesellschaftliche Aus verdienen. Während also deMaio der Meinung ist, man solle die Nazis ignorieren (Daniel Barenboim schlägt übrigens dasselbe vor), findet Andy DiGelsomina klarere Worte und distanziert sich eindeutig von der Person Wagner („It would be coarse, but accurate, for me to describe most of Wagner's writings outside of the musical realm to be the work of a complete idiot. Fascinating, the difference between artist and personal philosophy“).
Es ist in der Tat faszinierend, wie klar diese Musiker in der Lage sind, Werk und Autor zu trennen, während gefühlt nahezu die gesamte deutsche Kulturszene sich so schwer damit tut, was sicherlich die Interpretation und somit die ein oder andere Inszenierung negativ beeinflusst hat und es nach wie vor tut. Denn wer möchte schon mit Hitler gemeinsame Sache mache, und wenn auch nur als Musik-Fan?
In der Welt des Heavy-Metal spielt das anscheinend keine Rolle, da würde man Hitler vielleicht sogar zugestehen, wenigstens einen guten Musik-Geschmack zu haben. Und noch eine weitere Vermutung geistert durch die Metal-Subkultur, die hier aber nur am Rande eine Erwähnung findet, weil sie zu weit führen würde: Hätte es Metal schon früher gegeben, „wäre Hitler vielleicht mit Bier und Kutte nach Wacken gepilgert anstatt nach Bayreuth“?
In Bayreuth selbst hatte man mit diesem Gedanken bisher anscheinend keine Probleme (also mit Metal nicht mit Hitler!), wurde dort 2010 immerhin ein Projekt namens „Transition Metal“ gewagt, das sich nicht weniger vorgenommen hatte, als die Synthese aus Metal und Wagner ernsthaft aus der e-musikalischen Perspektive zu denken und nicht bloß, indem Metal-Musiker mit ihren Arrangements der Werke klassischer Komponisten huldigen.
Bei diesem Projekt begegneten sich das Orchester des 13. Tons unter Leitung von Ulf Klausenitzer und die progressive Death Metal Band Noneuclid des Landshuter Komponisten Florian Magnus Maier auf Augenhöhe, in dem beide Parteien erst die Musik des anderen interpretieren und sich dann einer gemeinsamen Komposition zu widmen. Betreut wurde „Transition Metal“ von Schirmherren wie Katharina Wagner (Wagner-Nachfahrin), Tom Gabriel Fischer (Metal-Legende) und Dr. Wolfgang Heubisch (Bayerischer Staatsminister für Wissenschaft, Forschung und Kunst). Beide Seiten (Metal und Wagner) betonen, dass die Unterschiede auf den ersten Blick auf den Zweiten zu Gemeinsamkeiten werden, weil bspw. auch progressiver Metal sowohl in der Form frei ist als auch einen avantgardistischen Ansatz anstrebt, ebenso als auch Wagner Instrumente in enorme virtuose Bereiche und Sänger an die Grenzen des Sangbaren geführt hat. Bei diesem leider zumindest in Deutschland in so großem Stil einmaligen Versuch wurden Vorurteile überwunden und Publikumssegmente zusammengeführt.
Musik als universelle Sprache macht es eigentlich leicht, Genregrenzen zu sprengen, jedoch ist es sicher kein Problem, diesen Gedanken auch auf ganze Inszenierungen auszuweiten, lässt sich jede Epoche doch auch immer als Stil denken.
Kann oder will dieser Transfer nicht geleistet werden?
Aber vielleicht sollte das nicht die Ausnahme sein, sondern die Regel und das dann völlig ernst gemeint?
Nachdem wir den Hörer des (Heavy) Metal als potenzielle Zuschauergruppe akzeptiert haben, braucht es nun ein Marketing-Konzept, um diesen in die Opernhäuser und zu den Festivals zu locken.
Dieses Vorgehen muss sich auf zwei Bereiche beziehen: zu einem den Rahmen der Rezeption und zu anderen die Art der Inszenierung. Das erste ist eine organisatorische und aber auch konzeptionelle Frage, das andere eine rein künstlerische. Und wie bei allem, gibt es auch Überschneidungen bzw. Notwendigkeiten, dass und ob beide Hand in Hand gehen sollten.
Künstlerische Konzepte, die Kenner der Metal-Szene miteinbeziehen, wäre ein möglicher Ansatz. Denn neben Wagner werden auch andere Stile und Interpreten der Klassik - und E-Musik-Szene sehr geschätzt. So ist bei nicht wenigen Metal-Fans eine nicht vom Tisch zu weisende Affinität für barocke Kunst-, Literatur - und Musikstrukturen zu erkennen. Vivaldi ist einer dieser Komponisten und auch mit dem spätromantischen Komponisten Richard Strauss und seinem Werk sollte der ein oder anderen Extrem-Metaller sowohl in musikalischer auch als in Sujet-technischer Hinsicht sicher etwas anfangen können.
Obwohl beim Besuch eines Metalkonzertes natürlich auch stille Hörer, die ihrer geliebten Musik durch aufmerksames Zuhören Respekt zollen, anwesend sind, ist der Anteil derer, die sich durch Headbangen im Moshpit zur Musik bewegen möchten, nicht unerheblich, genauso wie bei jeder anderen popkulturellen Tanz - oder Konzertveranstaltung. Letztendlich ist eine Metalshow in der Regel dann doch eher ein Rockkonzert als eine Soirée.
Der Raum der Oper ist der Fest-Saal bzw. das Opernhaus. Dort sitzt man still, während man dem Geschehen auf der Bühne folgt, sei es nun Konzert oder Oper, Focus auf dem Akustischen oder auf dem Visuellen. Solange an diesem äußeren Rahmen der Rezeption mit seinen festen Regeln nicht gerüttelt werden kann oder darf, müsste man diese entweder von der Zuschauerseite aus akzeptieren, was eigentlich kein Problem darstellen sollte (Stichwort Klischees) oder über alternative Aufführungsräume nachdenken.
Gemeinsamkeit Festival
Hier hätten wir dann schon wieder eine Gemeinsamkeit zwischen Metal und Wagner. Neben dem Einzelkonzert ist das Festival genau wie in der sonstigen Rockmusik die im Metal am größten
zelebrierte musikalische Großveranstaltung. Aber auch die E-Musik kennt das Festival bzw. das Festspiel, dessen Entstehung bereits in der Antike zu verorten ist und veranstaltete schon seit Ende
des 18. Jahrhunderts klassische Musikfestspiele, meist zu Ehren eines bestimmten Komponisten. Um die Kompromisse eines Repertoirebetriebs zum umgehen und um seine Vorstellung von Gesamtkunstwerk
verwirklichen zu können, rief Wagner 1876 die Bayreuther Festspiele ins Leben, das erste Musiktheaterfestival mit eigens dafür errichtetem Festspielhaus ohne Standesschranken und Gelände
drumherum.
Das Bayreuth der Metaller nennt sich Wacken und ist ein mehrtägiges Freiluftspektakel in Schleswig-Holstein für Metalanhänger aus der ganzen Welt. Während auf dem Grünen Hügel also alles, was in
der Klassik-Szene Rang und Namen hat, in Anwesenheit finanzstarker und politisch wichtiger Menschen die Hochkultur zelebriert, wird ein paar hundert km weiter nördlich im Schlamm gemosht und
gezeltet. Zwei Welten, wie sie wohl unterschiedlicher nicht sein könnten - wenn man denn unbedingt ausschließlich in Extremen denken möchte.
Denn es ist einem Metal-Anhänger ja durchaus zuzumuten, ein Konzert im Sitzen anzuschauen, genauso wie man einen Klassik bzw. Opernfan für ein Open Air auf die grüne Wiese lockt. Und auch der
grüne Hügel hat im Rahmen vergangener Bayreuther Festspiele die Aufführungen auch für Menschen außerhalb des Festspielhauses erlebbar gemacht.
Daneben lassen sich sicherlich allerhand Hybridformen verschiedener Bühnenarten und Aufführungs bzw. Inszenierungsrahmen erschaffen und in puncto Spielort auch mal außerhalb der üblichen Bahnen
denken, man betrachte nur mal alles, was im Bereich Schauspiel, Tanztheater oder Performance so gemacht wird, wo es kein Problem zu sein scheint, die Aufführung aus dem staatlich subventionierten
Dreispartenhaus raus und unter die Menschen zu bringen. Natürlich ist das Problem der Akustik mitzuberücksichtigen, aber da gibt es sicherlich versierte Menschen aus allen Bereichen des
Bühnenbaus und der Bühnentechnik, die dafür eine Lösung hätten. Ein solches Konzept also nicht einmal zu denken, wäre demnach nichts anderes als eine Ausrede, sich wirklich Neuem gegenüber nicht
zu öffnen.
Eine fantastische neue Welt täte sich auf
Neben in erster Linie der Musik als Anknüpfungspunkt sind natürlich die vielen Stoffe und Themen der Oper von Haus aus mit DIE ästhetische Komponente, die einen Metal-Hörer am meisten ansprechen müsste. Je nach Werk und historischer Tendenz sind die Geschichten, die in den Libretti erzählt werden - zumindest in den ernsten Opern und Musikdramen, aber auch in den komischen Stoffen - vornehmlich in der Mythologie, in der Geschichte oder im Reich der Märchen und Mythen zu Hause. Wenn von starken Helden, schönen Prinzessinnen, Drachen und Ungeheuern, Feen, Elfen und Hexen oder Göttinnen und Göttern gesungen wird, dann handelt es sich entweder um das neueste Album einer beliebigen Power-Metal-Band oder um eine Barockoper. Barock ist ja auch in rein musikalischer Hinsicht nach Wagner oft der zweite Favorit der Metaller unter den „Klassikern“, eben weil sich auch dort strukturell in ästhetischer wie inhaltlicher Sicht so viele Parallelen finden lassen - und ich spreche hier nicht nur von den Totenköpfen!
Die Bewunderung von Virtuosität und ein an sich selbst sehr hoher künstlerischer Anspruch sind genauso Gemeinsamkeiten wie eine Affinität zum Falsett - bei Männern!
Es ist eine Selbstverständlichkeit für einen Metalkünstler ein Album in jeder Hinsicht und in jeder dafür benötigten Kunstform stimmig und vor allem selbst zu gestalten(Was ist das Konzeptalbum anderes als ein Gesamtkunstwerk).
Neben seinem Faible für volkstümliche Mythen und die alten Götter schrieb Wagner nicht nur seine Libretti selbst, sondern wollte mit seinem Gesamtkunstwerk eine Theater-Einheit erreichen, die die Oper in den Jahrhunderten davor erfolgreich zerpflückt und separiert hatte. Das ist mit ein Grund, warum der Metal sich in geistiger Tradition Wagners sieht, lehnt er doch die Retorte und Austauschbarkeit des Pop ebenso ab, wie seinerzeit Wagner die italienische Nummernoper. Ebenso wie die Klassik hat der Metal eine (ich verwendet das Wort hier wertfrei) Tendenz zu Elitarismus und einer gewissen Exklusivität wie auch eine starke Bewunderung für Virtuosentum. Metal ist im Gegensatz zu bspw. Rock oder gar Punk auch immer eher Genuss handwerklich anspruchsvoller musikalischer (Performance-)Leistung als künstlerisches-gesellschaftliches oder gar politisches Statement.
In weiten Teilen (natürlich gibt es Ausnahmen), ist Metal aber tendenziell eine Welt für sich, die sich zu einem wesentlichen Teil aus Musik, aber auch aus visueller Darstellung und natürlich lyrischen Texten passend umgesetzter Themen speist, die sich ästhetisch ergänzen und dafür affinen Menschen eine Unterhaltung generieren soll, mit der sie sich identifizieren können. Statistisch gesehen ist der heutige Metal-Hörer nicht weniger formal gebildet als der bildungsbürgerliche Operngänger. Möglicherweise finden wir bei der jüngeren Generation sogar Überschneidungen.
Und während der durchschnittliche Bildungsbürger bei Fantasystoffen und Mythen sicherlich öfters die Nase rümpft – muten sie ihm doch vielleicht gerade wegen ihrer vermeintlich politischen Neutralität zu trivial an – feiert der Metalanhänger sie wie kaum etwas anderes.
Fantasy -Stoffe auch als solche behandeln
Die Welt der Oper und deren Sujets sind also eine Welt, die den ein oder anderen Metal-Anhänger interessieren könnte, insofern die Inszenierungen bewusst zielgruppenorientiert gestaltet würden. Also keine übertrieben modernisierten und politisierten Interpretationen des Libretto, es sei denn, sie wären ästhetisch und musikalisch stimmig (was eigentlich immer eine Selbstverständlichkeit sein sollte!), und im Zweifelsfall lieber ein wenig kitschiger und werktreuer als zu wenig. Warum also sollte man Feen und Vampire nicht als das darstellen, was sie sind, denn die Geschichte der Oper ist voll von Fantasy- und Märchenstoffe, die in den Repertoires der Häuser sehr vernachlässigt werden. Es gibt ein eigenes Untergenre namens Zauberoper und auch unabhängig von Wagner gerade in den Werken des 19. Jahrhunderts wie auch in allen Kunstformen dieser Zeit eine starke Tendenz zu volkstümlichen und märchenhaften Libretti. Es gibt epische Heldengeschichten aus Geschichte und Mythologie, die aus dem Tolkien-Universum stammen könnten und in denen gekämpft und gestorben wird, als handele es sich um Game of Thrones. Einige Opern von Richard Strauss sind thematisch reine Gore und Splatterorgien, wenn man sie aus heutiger Sicht bspw. des Death Metal betrachtet und musikalisch nicht weniger aufreibend, weil auch sie Grenzen immer weiter verschoben haben.
Exkurs Gothic
Offen für Ästhetik und Dramatik, Intellektualität, Dekadenz und das Alte ist auch die Gothic-Subkultur. So gibt es bspw. im Rahmen des Wave Gotik Treffen jedes Jahr in Leipzig auch seit Längerem in den kulturellen Institutionen der Stadt auf die Besucher des Festivals abgestimmt Inhalte.
Was also spricht gegen eine Zielgruppen-freundliche Inszenierung von etwa Marschners Der Vampyr? Zumindest für die Dauer der Veranstaltung.
(Der Vampyr gilt übrigens als wichtiges Bindeglied zwischen den Werken Carl Maria von Webers und Richard Wagners.)
Die Oper an sich ist mit ihrer strukturellen und ihre ästhetische Gestaltung ohnehin ein Anachronismus. Warum stellen wir sie dann nicht wenigstens denen zur Verfügung, die für so etwas ohnehin ein Faible haben? So würden wir ihr und auch Ihren Zuschauern gerecht.
Mit den Anhängern bestimmter Subkulturen hätten wir eine potenziell interessierte neue Zuschauergruppe für die Oper und deren Zukunft.
Davon sind wir jedoch weit entfernt, denn die derzeitige Realität sieht - jedenfalls meist - anders aus.
Die Ansätze „modernes Regietheater“ bzw. "Postdramatische Performance" bestimmen die Inszenierungsrealität (deutschsprachiger) Opernhäuser, gefeiert von einer Kulturszene, die eigentlich nur sich selbst feiert. Versuche, mit dem zahlenden Rezipienten in Diskurs auf Augenhöhe zu gehen, sind in der Regel leider zum Scheitern verursacht (siehe Kassel). So groß ist der Wunsch nach Dekonstruktion und politischer Erziehung, dass dafür sogar entweder absichtlich oder aus Versehen ästhetische Unstimmigkeiten in Kauf genommen werden. Ist das einer Abneigung geschuldet oder einer Unkenntnis, hätten wir doch mit einer bspw. „metalfreundlichen“ Inszenierungsästhetik einen Modernisierungsansatz, der der Gattung nicht zwingend diametral entgegensteht.
Vieles, das die moderne Opernlandschaft für unabdingbar hält, ist der Gattung Oper nämlich eigentlich inhärent, man muss diese Codes nur finden und sich auf sie einlassen. Dann kann man sie - wo notwendig - auch angemessen modernisieren.
Fantasy als Folie und auf Wiedersehen betreutes Zuschauen
Niemand hat je gesagt, dass die Oper unpolitisch sei. Seinerzeit war diese Art von Verfremdung in Form mythologischer oder fantastischer Sujets praktisch die einzige Möglichkeit, sich politisch zu äußern.
Märchen, Mythen und die aus ihr entstandene Fantastik bzw. Fantasy sind immer Folien gewesen, auf denen ernste und erzieherische Themen angesprochen werden konnten, eben weil diese Art der Verfremdung so sehr zeitlos und universell ist. Heavy Metal wiederum ist, trotz seines ästhetischen Selbstverständnisses, eine Kultur, die auf Provokation und Dekonstruktion und in ihren Anfängen auch auf politische Äußerung und Positionierung geradezu aus war (bspw. der Thrash-Metal der 1980er Jahre).
Da sind zwei, die sich unbedingt kennenlernen sollten, damit sie sehen, welch ungeheures Potenzial in ihrer Fusion stecken könnte. Ein Potenzial, das für mich nicht weniger wäre als die Zukunft der Oper!
© 2017-2024 Was-ein-Theater
Impressum
Dieser Blog ist ein periodisch erscheinendes publizistisches Angebot von:
Linda Stederoth
http://www.was-ein-theater.jimdofree.com/
Kontakt/E-Mail: was-ein-theater@web.de
Inhaltlich Verantwortlicher gemäß § 5 TMG, § 55 RfStV: Linda Stederoth
Disclaimer
Haftungshinweis: Trotz sorgfältiger inhaltlicher Kontrolle übernehme ich keine Haftung für die Inhalte externer Links. Für den Inhalt der verlinkten Seiten sind ausschließlich deren Betreiber verantwortlich.
Haftung für Inhalte
Als Diensteanbieter bin ich gemäß § 7 Abs.1 TMG für eigene Inhalte auf diesen Seiten nach den allgemeinen Gesetzen verantwortlich. Nach §§ 8 bis 10 TMG bin ich als Diensteanbieter jedoch nicht verpflichtet, übermittelte oder gespeicherte fremde Informationen zu überwachen oder nach Umständen zu forschen, die auf eine rechtswidrige Tätigkeit hinweisen.
Verpflichtungen zur Entfernung oder Sperrung der Nutzung von Informationen nach den allgemeinen Gesetzen bleiben hiervon unberührt. Eine diesbezügliche Haftung ist jedoch erst ab dem Zeitpunkt der Kenntnis einer konkreten Rechtsverletzung möglich. Bei Bekanntwerden von entsprechenden Rechtsverletzungen werde ich diese Inhalte umgehend entfernen.
Haftung für Links
Mein Angebot enthält Links zu externen Websites Dritter, auf deren Inhalte ich keinen Einfluss habe. Deshalb kann ich für diese fremden Inhalte auch keine Gewähr übernehmen. Für die Inhalte der verlinkten Seiten ist stets der jeweilige Anbieter oder Betreiber der Seiten verantwortlich. Die verlinkten Seiten wurden zum Zeitpunkt der Verlinkung auf mögliche Rechtsverstöße überprüft. Rechtswidrige Inhalte waren zum Zeitpunkt der Verlinkung nicht erkennbar.
Eine permanente inhaltliche Kontrolle der verlinkten Seiten ist jedoch ohne konkrete Anhaltspunkte einer Rechtsverletzung nicht zumutbar. Bei Bekanntwerden von Rechtsverletzungen werde ich derartige Links umgehend entfernen.
Urheberrecht
Die durch den Seitenbetreiber erstellten Inhalte und Werke auf diesen Seiten unterliegen dem deutschen Urheberrecht. Die Vervielfältigung, Bearbeitung, Verbreitung und jede Art der Verwertung außerhalb der Grenzen des Urheberrechtes bedürfen der schriftlichen Zustimmung des jeweiligen Autors bzw. Erstellers. Downloads und Kopien dieser Seite sind nur für den privaten, nicht kommerziellen Gebrauch gestattet.
Soweit die Inhalte auf dieser Seite nicht vom Betreiber erstellt wurden, werden die Urheberrechte Dritter beachtet. Insbesondere werden Inhalte Dritter als solche gekennzeichnet. Sollten Sie trotzdem auf eine Urheberrechtsverletzung aufmerksam werden, bitte ich um einen entsprechenden Hinweis. Bei Bekanntwerden von Rechtsverletzungen werde ich derartige Inhalte umgehend entfernen.
Diese Webseite wurde mit Jimdo erstellt! Jetzt kostenlos registrieren auf https://de.jimdo.com