Keine Branche hat sich seit den Anfängen der Corona-Zeit in diesem Land so sehr im Stich gelassen gefühlt wie die Kultur-und Veranstaltungsbranche, zu denen auch das Netz öffentlich getragener deutsch(-sprachig) er Stadt-und Staatstheater gehört, deren Dichte im internationalen Vergleich fast einmalig ist und der, im Gegensatz zu den auf Privatwirtschaft angewiesenen Spielstätten und anderweitigen Kulturangeboten, von Anfang an die volle finanzielle Unterstützung zuteil wurde.
„Das ist kein Geschwurbel, das sind offizielle Zahlen“
Diese wenig beachtete freie Kulturszene zuallererst, Subkultur inmitten einer Subkultur, gibt laut dem Pianisten und Komponisten Christian Nagel die „spannendsten Impulse für die Gegenwartskultur“; in ihr würde „am meisten experimentell gearbeitet“. In einer Ansprache, die der Musiker am 2.7.2022 auf der Demonstration FreiSeinFreiburg hält, nutzt er seine Redezeit um dieser Kultur eine Stimme zu geben, denn es würde „wenig berichtet, was die Maßnahmen angerichtet haben.“ Dabei wartet er mit „harten Zahlen“ auf, die mitnichten sogenanntes „Geschwurbel“ sind, sondern offizielle Zahlen, unter anderem aus dem jährlichen Monitoringbericht Kultur-und Kreativwirtschaft der Bundesregierung oder Angaben des Weltwirtschaftsforums. So sei dort nachzulesen, so Nagel, dass es im Bereich der Live-Darbietungen „im Jahr 2020 81% weniger Umsatz gab als im Vorjahr, ebenso 2021“ und dass die Prognosen weiterhin schlecht stünden und „Erholung nicht so bald zu erwarten sei“, denn „nach Zahlen des Weltwirtschaftsforums könnten bis 2030 59% aller Jobs in der Veranstaltungsbranche verloren gehen“. Viele dieser sowieso „prekären Beschäftigungsverhältnisse“ seien ohnehin „keine festen Stellen, sondern Minijobs, die von einem Viertel der Beschäftigten sowieso schon aufgegeben worden seien aufgrund fehlender Planungssicherheit“.
Politischer Missbrauch des Virus
Für Christian Nagel ist also klar: „die Kultur als Erstes zu schließen war eine politische Entscheidung“ und unterstellt den Regierenden einen politischen Missbrauch des Virus.
Zwar mag die Situation für weniger prekär Beschäftigte an staatlichen Bühnen finanziell weniger schlimm gewesen sein, dennoch wurde auch hier anscheinend ein Mangel an Überbrückungshilfen
festgestellt; wozu sonst sollte beispielsweise gegen das Theater Darmstadt der Verdacht im Raum stehen, Subventionsbetrug betrieben zu haben, wogegen in diesem Zusammenhang noch immer ein
Verfahren läuft, wenn sich da nicht irgendein Hochpositionierter Geld in die eigenen Taschen schaufeln wollte, sondern es tatsächlich um die wirtschaftliche Absicherung Beschäftigter ging?
Der Spiegel und die Faz berichteten ausführlich über diesen Fall.
Die Welt ist eine leere Bühne und doch sind wir nur die Marionetten
Aber trotz alledem: eine leere Bühne ist eine leere Bühne und man mag den Kulturarbeitenden unterstellen, sie täten ihre Arbeit in erster Linie nicht des Geldes wegen, sondern weil sie einer
Berufung folgen; nicht selten sind die Kollegien an Kultureinrichtungen für einige Beschäftigte sicher sogar so etwas wie Familienersatz. Kaum jemand dort wird nach Feierabend wohl einen
Ausgleich mit Netflix und hemmungslosem Online-Shoppen auf Amazon suchen. Kulturarbeit ist keine Arbeit, die ein Leben im Konsum ermöglichen soll, sie ist für viele eine Lebenseinstellung mit
Begegnung, Austausch und einem dekadenten „Weinchen“ statt des Feierabendbiers des Proleten, über den der Kulturschaffende sich – zumindest dem Klischee nach – gern erhebt.
Keiner wünscht sich also die „Normalität“ so schnell zurück wie die darstellende Kunst und ihre Akteure.
Oft ohnehin finanziell abhängig vom Staat und dessen Geldern, sind öffentliche Kulturinstitutionen schon daran gewöhnt, mit der Politik und nicht gegen sie zu leben. Wer beißt schon in die Hand,
die einen füttern? Und zu glauben, diese „Fütterung“ gäbe es ohne jedwede Gegenleistung, ist mehr als naiv. Außerdem: das schlechte Gewissen sorgt schon dafür, dass eine Leistung nicht einfach
angenommen werden darf, ohne sich in irgendeiner Weise dafür zu revanchieren.
Das ist menschlich und das weiß die Politik. Schon im Mittelalter wurde der Vasall dem Lehnsherrn nicht untreu. Und auch im Beamtentum, der Kernzelle der öffentlich finanzierten Alimentierung auf
deutschem Boden, sieht es auch noch in der Gegenwart nicht viel anders aus, gehen (Theater-)Kunst und Dienstherren seit der Zeit als Wandertruppen feste Bühnen bezogen, und unter dem Schutz von
Kurfürsten standen, einen gemeinsamen Weg, der sich in der in der Welt fast einzigartigen Situation der deutschen Kulturlandschaft niederschlägt – mit allen Vor- und Nachteilen.
Wie dem daraus resultierenden Machtgefälle. Die Theater brauchen das Geld, wären sie doch nie und nimmer in der Lage sich auf dem freien Markt zu behaupten. Dass weiß die Politik und was sie
anscheinend wirklich von der Kultur hält, zeigt sie, indem sie der Branche, die sich von Anfang an mit am meisten um Hygiene-Konzepte und Ähnliches bemüht hat und in der es -nachgewiesener Weise
- so gut wie keine Ansteckungsgefahr gegeben hat, als Erstes wieder die Schließung auferlegt.
Die Gefahr der Agitation steht im Raum
Warum also gibt es keinen Aufschrei? Doch, den gibt es, aber die wenigsten Akteure der Branche richten ihre Kritik wie beispielsweise Christian Nagel gegen die Verantwortlichen der Politik,
sondern treten erstmal um sich und nach unten, während sie weiterhin mit der Faust in der Tasche nach oben buckeln und stellen damit ein Ausmaß preußischer Untertanenmentalität zu Schau, so als
trüge man noch immer Pickelhaube und zeigen damit eigentlich nur eine Hilflosigkeit, die deutlich macht, wie wenig die eigene Daseinsberechtigung bisher außerhalb des eigenen Mikrokosmos
reflektiert wurde. Denn in einer Welt, in der die Unterhaltung mittlerweile per Streaming ins Wohnzimmer kommt und die kulturelle Bildung nach wie vor ein Prestige Auserwählter zu sein scheint,
ist Theater eben einfach nicht systemrelevant, egal wie gern man das hätte. Außer für einen, die Politik, und für die ist sie bestenfalls Agitation.
Während Kritiker wie Nagel die eigene Position anders und ohne Dünkel reflektieren, weht in der Kulturszene allgemein hin ein anderer Wind, spaltet auch hier Corona-Politik und insbesondere die
Impfung die Menschen in Lager, wobei in diesem konkreten Fall die relative Verteilung absoluter beschaffen zu sein scheint als in anderen Milieus. Sie zeigt einen Allgemeinzustand und offenbart
ein recht spezielles Selbstverständnis, eine Art Standesdünkel, der Strukturen und Hierarchien zu verdanken ist, die den Kulturinstitutionen so inhärent sind, dass man da fast schon von
Parallelwelten sprechen kann. Eine bürgerliche Parallelgesellschaft der „Klugen und Vernünftigen“, wie man sie in einer solchen Reinform vielleicht heutzutage nur noch bei Galeria Kaufhof, Peek
und Cloppenburg oder dem Feinkostgeschäft antreffen kann; in Wellenstein gekleidete ffp2-Masken-Träger die die Nase oben tragen würden, könnte man diese sehen. Das - ich nenne es mal so -
typische Abonnenten-Klientel der Stadt- und Staatstheater Deutschlands. Das sich bewusst oder unbewusst abgrenzen will vom Pöbel außerhalb ihrer Hemisphäre, wo eher Pragmatik regiert als
Image.
Überschneidungen gibt es da durchaus zu den Kulturschaffenden, unter denen sich zwar durchaus noch ein paar alte „Revoluzzer“ befinden mögen aus einer Zeit in der Theater noch ein Spiegel war,
der Revolte gegen „die da oben“ bedeutete und bürgerliche Strukturen ganz bewusst aufgebrochen werden sollten.
Die Causa Castorf - eine Sache des Standpunktes
Frank Castorf, ein solches umstrittenes Theater-Urgestein aus dieser längst vergessenen Zeit, ein postdramatischer „Stückezertrümmerer“, der in seinen Glanzzeiten als Intendant der Berliner
Volksbühne am Rosa-Luxemburg-Platz, für deren Kultstatus er maßgeblich verantwortlich war, regelmäßig konservative Theatergänger auf die Barrikaden rief, machte am Anfang der Corona-Zeit
Schlagzeilen mit Aussagen wie „Ich möchte mir von Frau Merkel nicht mit einem weinerlichen Gesicht sagen lassen, dass ich mir die Hände waschen muss“ oder „Das beleidigt meine bürgerliche
Erziehung.“ Und seine Abneigung gegen die verordnete „gesellschaftliche Pflicht der Rettung vor dem Tod“ zeigt, dass Castorf noch immer ein kritischer Sturschädel ist. Zwar wurde bspw. seine
Ästhetik des politischen Theaters schon damals missverstanden, ist die Kritik bezüglich seiner Corona-bezogenen Aussagen an ihm heutzutage beinahe bösartig herablassend, wird seine Polemik als
pubertär regelrecht abgetan und die Causa Castorf, dem es eigentlich nur um eine Verhältnismäßigkeit mancher Maßnahmen geht und der seine provokanten Aussagen mittlerweile relativiert hat, wird
beiseite gewischt, so als hätte sie keinen Platz in einer Welt, in der ohnehin alles, was aus dem Mund eines alten weißen Mannes kommt, nicht für bare Münze genommen werden darf und höchsten von
Realitätsverlust und einer verzerrten Wahrnehmung zeugen kann und wenn dieser alte weiße Mann nicht nur auf die Bevormundung durch den Staat und das Hängen am Tropf des selbigen hinweist, sondern
zu allem Überfluss auch noch Trump gut findet und sich angesichts der Corona-Einschränkungen einen republikanischen Widerstand wünscht, der ist in der heutigen Gesellschaft ohnehin verloren.
Castorfs Wunsch nach einer streitenden Gesellschaft steht einem neuen Verständnis neuer bürgerlicher Solidarität mehr als im Weg.
Denn nicht Castorf hat sich verändert, ist gar ins rechte Lager gewechselt, sondern die Gesellschaft hat dies getan, weshalb er in seiner ehemaligen Zone nun wie ein Fremdkörper wirken mag.
Wohl auch deshalb mutet es geradezu ironisch an, dass die Hygiene-Demo einiger Corona-Kritiker im Jahr 2020 vor der Berliner Schaubühne, Castorfs ehemaliger Wirkungsstätte, von deren derzeitigen
Intendanten scharf verurteilt wurde.
Der Wind, der inzwischen dort weht, scheint exemplarisch und richtungsweisend.
Der Elfenbeinturm ist hoch wie nie doch wen schließen wir aus?
Dafür dass die Theater im deutschsprachigen Raum praktisch permanent über einen Besuchermangel klagen, schließen sie dann doch recht viele, ob nun beabsichtigt oder nicht, aus.
Verschanzt im Elfenbeinturm lässt die Kultur sich von sich selbst feiern, von einem kleinen Kreis Eingeweihter, die blind die Regeln befolgt, die sie keinem Außenstehenden erklären. Ein kleiner
elitärer Zirkel der sich selbst befruchtet und manch Außenstehendem vorkommen muss wie eine Freimaurerloge.
Einen Anreiz gab es nie wirklich etwas an dieser Situation zu ändern und so eine Art „Der Kunde ist König“-Mentalität einzuführen, wird das Gros öffentlicher Kultur doch vom Steuerzahler kräftig
mitfinanziert, egal ob sein Hinterteil je mit einem Theatersessel Kontakt hatte oder nicht. So konnten über Jahrzehnte beinahe inzestuöse Exklusivstrukturen entstehen, die, auch wenn jeder
Zuschauer für seine Karte bezahlen muss, es den Kulturinstitutionen erlauben, die Haus-Regeln nach ihrem Gusto oder dem des politischen Konsens zu machen.
Das was abfällt wird aber seit Corona ein wenig schmerzlicher vermisst als bisher, seien es nun Zuschauer, die trotz höchster Regelkonformität/ Pandemie-Sicherheitsstandards, aus Angst vor
Infektion den Vorstellungen fernbleiben oder Mitarbeiter der Branche, die diese aus Gründen der Krise verlassen mussten, aus welcher Motivation heraus auch immer.
Die Impfung als "Deus ex Machina"
Wenn also die Schlinge immer enger gezogen wird, und der Wunsch nach Normalität alles andere ausblendet, wird die dargebotene Lösung wie ein Geschenk angenommen, aber auch als alternativlos
angesehen. Und das von beiden Seiten. Die Impfdebatte hat gezeigt, dass Menschen sich dafür entscheiden müssen Menschen auszuschließen, damit ihnen eine abgesteckte Handhabe im Corona Regularium
zugestanden werden kann.
Was der Einzelhandel (aber auch das Hotelgewerbe und die Gastronomie) von Anfang an kritisiert hatte, als eine Form der Verantwortungsverschiebung auf dem eigenen Rücken und in weiten Teilen
beklagt hat, sich bei staatlich verantworteten Maßnahmen wie den G-Regeln gegen die eigene unternehmerische Tugend der Gastfreundschaft entscheiden zu müssen um überhaupt öffnen zu dürfen, hat
sich die Kultur- und Veranstaltungsbranche in weiten Teilen geradezu begeistert von derlei Maßnahmen gezeigt, und diese mit tiefster Überzeugung und in regelrecht vorauseilendem Gehorsam
umgesetzt. So als wären es nicht nur die eignen Ansichten gewesen, sondern als wäre endlich ein Vorwand gefunden worden, Menschen ausschließen zu dürfen, die sich außerhalb der eigenen
Ideologie-Blase befinden. Sah man manch eine verpönte Überzeugung wie das Wählen bestimmter Parteien oder das Distanzieren oder nicht Konformgehen mit manch politischen oder gesellschaftlichen
Themen einem Kulturkonsumenten oder Theatergänger nicht an der Nase an, so ist ein Eintrag in den Impfpass oder auch die Maske im Gesicht nicht nur ein Sich-an-die-Regeln-halten, sondern kann als
regelrechtes Bekenntnis zu einer Lebenseinstellung interpretiert werden, die unter dem Vorwand der Pandemie-Bekämpfung betrieben wird und eine selbstempfundene moralische Überlegenheit
suggeriert, die Raum für Ausschluss und Schubladendenken macht und Öl in das Feuer das latenten Elitarismus der Kultur gießt wie kaum eine Thematik oder ein Diskurs zuvor.
Und zumindest den staatlichen geförderten Stellen muss man unterstellen, dass es ohnehin egal ist, wieviel Umsatz sie (theoretisch) generiert hätten, wenn sie nicht für eine solch radikale
Umsetzung eingestanden hätten /einstehen würden. Aber da auch private Theater nicht selten in dasselbe Horn geblasen haben wie die Öffentlichen (als extremstes Beispiel wäre das Theater an der
Niehburg, ein privates Theater in Oberhausen, das ab Oktober 2021 nur noch Geimpften Eintritt gewährte; immerhin um sonst keinerlei Einschränkungen mehr hinnehmen zu müssen; ein Tausch Maske und
Abstand gegen Impfung sozusagen) muss man der Kultur unterstellen anders als der Handel bspw. weniger pragmatisch, sondern rein ideologisch an das Thema herangegangen zu sein, was entlarvt, dass
die Wohlgesonnenheit des Staates und seiner (finanziellen) Förderung wichtiger sind als möglichst viele Zuschauer, was absurd ist, denn zumindest Theater funktioniert ohne Zuschauer nicht.
Theater ohne Zuschauer - für wen ist das eigentlich ein Problem?
So musste an den großen Theatern ein Durchziehen des Programms um jeden Preis exerziert werden mit „Geisterpremieren“ und Produktionen für die Tonne. Das tut einerseits weh, andererseits muss,
wer Steuergelder kassiert, auch abliefern, wenn vordergründig auch nur für das eigene Gewissen oder um beschäftigt zu sei. Ein „Ich kann so nicht arbeiten“ wird da vielleicht von dem ein oder
anderen gedacht, aber ganz sicher nicht offen ausgesprochen worden sein.
Auf wem solch ein Druck von oben lastet, dem mag man unterstellen, dass er ihn schnell nach unten weitergeben möchte. Und wer ist das schwächste Glied im Theaterbetrieb, obwohl ohne ihn
eigentlich kein Theater im eigentlichen Sinne stattfindet? Ironischerweise der zahlende Zuschauer…
Und wenn es ein „Ungeimpfter“ sein sollte, dann ist er zum moralischen Abschuss freigegeben.
Dennoch ist die Debatte auch in der Welt der Kultur ein Diskurs und kein Dogma, melden sich auch hier Stimmen, die gegen den Konsens argumentieren und zumindest für differenziertere Ansichten
sind.
Die Ansichten zum Thema entladen sich exemplarisch in drei Artikeln über die Impffrage und deren angehängten Leserkommentaren auf der Theaterplattform nachtkritik.de
Der vorsichtiger Relativerer
In seiner Kolumne „Als ich noch ein Kritiker war“ behandelt Nachkritik-Autor Wolfgang Behrens das Thema mit einem Verweis auf den Philosophen Peter Bieri und dessen Bildungskonzept und plädiert
für Diplomatie und Annäherung. Denn Theater sei ein Ort der „Herzensbildung“ und der Empathiefähigkeit und Kunst sei "die Artikulation von Phantasie, und Phantasie ist die Fähigkeit, sich
Alternativen, also Möglichkeiten vorzustellen“. Im Sinne des Philosophen Bieris beklagt Behrens die Empathielosigkeit gegenüber Ungeimpften und deren Ausschluss und ist damit eine der wenigen
gemäßigten Stimme in einem sonst eher latent aggressiven Diskurs.
Dieser Diskurs zeigt sich dann sogleich in der Kommentarsektion des Artikels und reicht von Dank für die Differenzierung bis hin zu eigenen extremen Ansichten, in die sich – fast schon
ironischerweise – auch der Autor wieder einmischt mit dem Hinweis, dass der Tenor seines Artikels das Hinweisen auf ein philosophisches Toleranzkonzept war, das eben genau vor dieser Art von
Framing und Pauschalverurteilungen warne. Das zeigt, wie festgefahren dieser Diskurs ist, wie „gefährlich“ es sogar für einen so sachlichen, gemäßigten und zur Diplomatie aufrufenden Autor wie
Behrens ist, sich nicht zu 100% und Null-Toleranz-Politik auf die „richtige“ Seite stellen zu wollen, wird doch der kleinste Anflug von „Feindkontakt“ bereits als Zugehörigkeit zum „falschen“
Lager gesehen, aus dem es kaum noch ein Zurück in die Neutralität zu geben scheint, denn auch diese Neutralität ist suspekt, denn sie könnte ja bedeuten, dass man doch heimlich Sympathisant der
„falschen“ Seite sein könnte und das gilt es, um jeden Preis zu vermeiden, so groß ist die Angst vor der sozialen Ächtung, dem gesellschaftlichen Tod – denn die Kulturszene ist ein Klüngel
und niemand will einen Ausschluss riskieren.
Der direkte Forderer und seine Gegenforderer
So radikal sind dann verständlicherweise auch die extremen Positionen der anderen Seite, der Seite, die sich, wie es scheint durch ihre eindeutige Ansicht auf der sicheren „Seite“ wähnen möchte,
wenn man schon von Seiten sprechen muss und keinen Hehl daraus macht, welche Position sie einnimmt und diese mit fast schon fatalistischem Eifer vertritt wie das Beispiel des Intendanten des
Landestheaters Tübingen (LTT) aus dem Jahr 2021 zeigt, dessen Forderung nach einer Impfpflicht für Theater sowohl auf, hinter und vor der Bühne als ein Akt der Solidarität und als ein klares
Zeichen gesehen werden soll. Außerdem stelle man sich mit dieser Position unverkennbar „hinter die Wissenschaft“. Die Impfung als alternativloser Heilsbringer, der wie ein Deus ex Machina (ein
Muster, das dem Theatermenschen mehr als bekannt, ja gar geläufig ist und in dem Fall anscheinend von den Gesetzen der Bühne entkoppelt gesehen wird) die Normalität schnurstracks wieder
herstellen soll und einer gebeutelten Branche wieder Rückenwind verleiht? Mit dieser Aussicht auf ein Happy End mit Solidarität als Mantra stört selbstverständlich ein vorsichtiges Bitten um die
Bezeichnung als „differenzierter Impfentscheider“ statt „Impfunwillige“ nur und der mögliche Trugschluss „Impfung statt Maske“ ist zu verlockend, um ihn als solchen auch nur zuzulassen,
schließlich ist sogenanntes „Quergedenke“ das einzige, das falsche Schlüsse zulässt.
Eine derartige Ansicht wie die des Tübinger Intendanten ist natürlich eine Steilvorlage für Kommentare, gerade solche, die mit dieser Ansicht nicht übereinstimmen. Schnell wird klar, dass über
den Konsens darüber, was Theater ist, für wen es da sei und was denn eigentlich überhaupt sein Auftrag sei, nicht nur Uneinigkeit zu herrschen scheint, sondern dieser Konsens anscheinend sogar
noch definiert werden muss und wie die Wertigkeiten und Prioritäten beschaffen sind. Ist das Theater denn nun ein Ort der Begegnung und der Egalität oder einer der Sicherheit? (Oder gar eine
politische Agitationsanstalt?) Und darf man diese beiden Parameter überhaupt gegeneinander ausspielen? Ein Gedankenspiel im Zuge von Corona, das auch die Welt außerhalb des Mikrokosmos Theater
beschäftigt hat, besonders wenn erschwerend hinzukommt, dass nicht nur Moralkonsens, sondern auch „virologische Sachlage“ gar nicht hinreichend bekannt sind. Doch egal wie die persönliche Ansicht
beschaffen sein mag und ob Trugschlüsse wie Solidarität unter Zwang oder allgemein gültige Definitionen von Vernunft oder Moral ohne historischen Kontext als solche erkannt und benannt werden,
die Situation ist und bleibt ein Dilemma und die Lösung wird ebenso praktikabel wie polemisch serviert: Theaterapartheid. „Bedingungs-Nötigungstheater“ von Geimpften für Geimpfte und solche, die
„sowohl für Geimpfte als auch Nicht-Geimpfte mit großem Selbstverständnis spielen. Angstfrei, Vorurteilsfrei, frei.“ Wieso eigentlich nicht?
Der aggressive Moralist
Dass eine solche Idee aber nicht allen passt, zeigt die weitaus radikalere Ansicht des jungen Regisseurs Tim Tonndorf, der mit seinem Essay „Wer hat Angst vor Vakzina Wolf“ eine direkte Reaktion
auf die kontroverse Debatte in den Kommentaren unter der Meldung über den Tübinger Intendanten und seine Impfpflichtforderung formuliert hat.
Er postuliert dem Theaterbetrieb darin einen fragwürdigen Umgang mit „Impfverweigerern“ und wirft ihnen vor, so „die Falschen zu decken“ und Impfverweigerer regelrecht zu „hofieren“.
Dabei ist der Ton Tonndorfs ein durchaus harter, der zwar von manch einem Kommentarschreiber als ein Ausdruck des „Pflichtgefühls eines jungen Menschen“ gewertet wird, für das er dankbar ist,
andererseits aber manch einem Leser regelrecht Angst bereitet.
Tonndorf beginnt damit, dass er klarmacht, eine Distanzierung von der „falschen“ Seite um jeden Preis zu betreiben, indem er mit Kampfbegriffen wie „Schwurbelvereine“ nur so um sich wirft und
pauschal eine Abwertung jedweder naturnahen Lebensweise betreibt, die dem Kunst- und Kultursektor ohnehin fremd zu sein scheint, der seit Corona unzweifelhaft die Fahne der „Wissenschaft“ höher
hält als sonst irgendetwas, so als hätte diese nichts mit Natur zu tun ...
Da werden Gegensätze gebildet und Rechte so gegeneinander ausgespielt, dass ein Kommentarschreiber daran erinnern muss, dass „totalitäre Wunschvorstellungen im Kulturbetrieb nur auf die Bühne
gehörten, um sie dort zu verhandeln“.
Ein anderer Leser stört sich wiederum
an den vielen Klischees, die er Tonndorf unterstellt zu reproduzieren, da diese die Verständlichkeit zudem behinderten
Und in der Tat werden beispielsweise „impfgegnerische Desinformation“ und ein Warnen vor Ausschlussmechanismen allgemein am Theater vom Autor gleichgesetzt. Dieser gibt durchaus zu, dass schon
immer Menschen vom Theater ausgeschlossenen waren, unterstellt den durch die Impfung Ausgeschlossenen aber, dass diese sich wiederum niemals für die Marginalisierten interessiert hätten, bis sie
selbst vom Thema Ausschluss betroffen waren. Und zu glauben, dass es vor der Impfpflicht-Debatte keinen Ausschluss am Theater gegeben hätte, sei nach Meinung des Autors, womit er durchaus nicht
Unrecht hat, entlarvend und naiv. Der Kreis zur Impfpflicht-Debatte schließt sich so argumentativ für Tonndorf, jedoch spielt Tonndorf auch hier wieder Gruppen gegeneinander aus und betreibt
einen whataboutism, den er sicher gern anderen unterstellt, denn auch wenn bei ihm auch diesbezüglich durchaus differenziert werden darf, geimpft werden müssen am Ende alle. Tonndorf geht aber
von der Prämisse aus, dass die Impfung nur helfe, wenn alle geimpft seien. Eine Prämisse, in die nicht nur er sich möglicherweise verrannt hat.
Und auch hier sind es wieder die Leser, die das Problem der schwierigen Faktenlage auf den Tisch legen und mahnen, politisch und moralisch nicht mit wissenschaftlich gleichzusetzen und gar eine
Rückabwicklung der Aufklärung zu betreiben. Auch eine Warnung geben sie Herrn Tonndorf mit auf dem Weg: „Theater als Arm und Erfüllungsgehilfe der Politik“ zu missbrauchen, sei „bedenklich“. Das
Ergebnis sähe man ja schon an den vielen „unnützen Veranstaltungen die sich am Regierungskonsens entlang hangeln.“
Auch von „Übergriffigkeit für andere zu sprechen“ ist in den Kommentaren die Rede. Und das Schlusswort hat sogar eine „gefühlt Ausgegrenzte“, die sich aus medizinischen Gründen nicht impfen
lassen kann und sich aufgrund des harschen Tones in Bezug auf die Thematik nicht mal traut, ihren Namen zu nennen.
Das Dilemma des eigenen Selbstbildes
Diese drei Beispiele zeigen meiner Ansicht nach gut, wo der Theater- und Kulturbetrieb sich bezüglich der Impf-Debatte im gesellschaftlichen Gesamtbild befindet und dass es die (moderat)
kritischen Stimmen auch dort gibt, dass der Wunsch und der Drang nach Diskurs und sachlicher Diskussion durchaus existiert, da es ja auch viel Definitions- und Klärungsbedarf gibt. Die Forderung
eines Intendanten wird differenziert kritisiert. Jedoch wird von extremer Seite aus Annäherung bereits als Hofieren betrachtet und Fronten haben sich insofern verhärtet, dass sogar zwei Namen der
Szene verbal in der Kommentarsektion unter einem Artikel so aufeinander losgegangen sein müssen, dass eine Moderation einschreiten und zensieren musste. Kritische Stimmen haben es hier scheinbar
schwerer als anderswo. Aber warum ist das so? Der Konflikt in der Theater- und Kulturszene ist logischerweise ein härterer, weil ihre Schlinge bezüglich Öffnungen und Finanzierung enger sitzt und
unmittelbar mit der Willkür von Staat und Politik verbunden ist. Das macht etwas mit ihren Akteuren, lässt Fronten stärker verhärten und Konflikte schneller hochfahren, ist die Frage nach dem
Verhalten bezüglich Corona hier ja auch selten eine pragmatische, wenn stets Moral und Ideologie mitschwingen und das eigene Selbstverständnis eines ist, dass im Konflikt zwischen Moral und
Solidarität und dem Verwechseln dieser Dinge mit Agitation und Regierungstreue ein Dilemma entdeckt hat, das aber nicht wirklich zugeben möchte, weil sie sich schon zu tief verfangen hat im Netz
des Gegeneinanderausspielens.
Kunst vs. Kultur
Was dies alles aber zeigt, ist, dass eine Branche sich hier selbst zerfrisst und sich in ideologischen Grabenkämpfen verliert, statt sich künstlerisch mit der Thematik auseinander zu setzen.
Stattdessen wird ein Theaterprinzip wie das des "deus ex machina" auf die wirkliche Welt übertragen. Zwar ist es verständlich, die Hand nicht beißen zu wollen, die einen füttern, aber wenn sich
unzweifelhaft abzeichnet, dass die Hand vielleicht gar nicht so sehr am Füttern interessiert ist, könnte man vielleicht darüber nachdenken, selbst zu lernen, wie man an Nahrung kommt und diese
würde dann vielleicht sogar dem eigenen Geschmack zuträglicher sein.
Die Aussicht- ein Theater der Geimpften (auf Zeit)?
Was sind die Aussichten, wo soll es hinführen?
Vielleicht mag der Sommer 2022 den Anschein von Normalität erwecken aber im Herbst könnte das Spiel von vorn losgehen, wenn wieder Namen der Theaterbranche mit Wikipedia-Artikeln in
Leserkommentaren einschlägiger Portale verbal aufeinander losgehen.
Die Masken sind gefallen (oder auch nicht) und der Makel der Forderung nach Apartheid lässt sich vielleicht nicht so gut vergessen wie die letzte eigene schlechte Kritik.
Das Theater der Geimpften steht im Raum und jeder muss selbst entscheiden, ob er es besuchen möchte oder nicht.
Ich für meinen Teil habe meine Entscheidung getroffen.
Die Welt mag eine Bühne sein, doch nicht länger für mich.
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